
© Yuriy Gurzhy
Ukrainisches Kriegstagebuch (144): Mit Tränen im Hals singen
Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.
Stand:
17.6.2023
Es gibt dieses Musikvideo von Nirvana aus dem Jahr 1991, inszeniert als Fragment einer Fernsehshow aus den 1960ern, in dem die Band in niedlichen Kostümen und Perücken vor dem Pappmodell eines Schlosses performt. Doch gelegentlich treten Störungen auf und die Zuschauer*innen bekommen kurzzeitig ein anderes Bild zu sehen, als ob der Fernseher eigenständig auf einen anderen Sender umschalten würde. Da ist das Trio zwar im gleichen Setting, aber die Musiker, diesmal in Schlafhemden gekleidet, verhalten sich völlig anders – sie zerstören ihre Instrumente, das Schloss kippt, alles bricht auseinander.
Etwas Ähnliches spielt sich in meinem Kopf ab, als ich von der Haltestelle Schönauer Ring Richtung Robert-Koch-Park laufe. Mit seinen endlosen Reihen von Plattenbauten erweckt der Leipziger Bezirk Grünau in mir Erinnerungen an Oleksijiwka in Charkiw, wo ich in den frühen Neunzigern vor meinem Umzug nach Deutschland gelebt habe; oder auch an Saltiwka, eine riesige Plattenbausiedlung am anderen Ende meiner Heimatstadt.

© Yuriy Gurzhy
Ich laufe die Straßen von Grünau entlang, aber vor meinen Augen steht Saltiwka, wie ich es im Dezember 2022 erlebt habe. Eine Gegend, wo viele meiner Freunde lebten, wie auch mein Musiklehrer und meine erste Freundin … Dass diese Hochhäuser irgendwann verfallen, wenn man sie nicht rechtzeitig sanieren würde, hätte ich mir vorstellen können – aber dass sie eines Tages von russischen Raketen zerstört werden?
In einem kleinen Imbiss unweit von der Haltestelle hole ich mir zwei Stücke Baklava für den Weg. Der junge Verkäufer ist sehr freundlich, ich bin ja mittlerweile so etwas wie ein Stammkunde; ich war schon gestern und auch vorgestern hier. „Baklava wird von Türken und Arabern gemacht“, erzählt er, während ich zu erklären versuche, dass ich keine Plastikbox dafür brauche. „Einfach auf einer Serviette? Nein, so gehört es sich nicht!“ Dann fordert er mich auf, zu erraten, woher er stammt. Ich versuche mein Bestes: „Vielleicht Türkei?” – “Nein, Syrien”, lächelt er. Ich sage, ich komme aus der Ukraine. „Und ich dachte deutsch”, wundert er sich, “aber ähnlich, Deutsche, russen, Ukrainer“.
Wahrscheinlich sieht man mir an, dass ich von diesem Vergleich nicht begeistert bin. Der Verkäufer fragt, ob der Krieg noch weiterläuft, gibt zu, er sei skeptisch, wenn es um den Kampf gegen russland geht. „russland groß und stark, viele Waffen“, seufzt er. „Ich liebe alle Länder, aber russland ist Scheiße.“
Yuriys Vater ist bei Bachmut gefallen
Gestern fand auf der Sommerbühne vom Theater der Jungen Welt endlich die Premiere der Produktion „Die letzten Ritter von Grünau“ statt, die wir seit Wochen proben. Ich fürchtete, es könnte zu heiß werden. Meine Schauspielerkolleg*innen erzählten, wie sie letztes Jahr hier bei 37 Grad gespielt haben, aber diesmal haben wir mit dem Wetter Glück.
Bei der Aufführung präsentieren wir fünf wahre Geschichten von Menschen, die in Grünau leben, sie werden zur Musik, die ich geschrieben habe, gerappt und gesungen. Einer der Mitwirkenden ist der 17-jährige Yuriy, der vergangenes Jahr mit seiner Mutter und Schwester aus der Ukraine nach Deutschland geflohen ist. Yuriys Vater ist bei Bachmut gefallen.
Ich erinnere mich daran, wie ich vor einigen Monaten die erste Textfassung von „Die letzten Ritter“ gelesen habe und wie sehr mich die Lebensgeschichten rührten, die unser Regisseur Georg Genoux im Rahmen seiner langen Recherche in Grünau gesammelt hat. Seitdem musste ich mich täglich damit auseinandersetzen – und erst jetzt wird mir bewusst, dass damals wahrscheinlich ein Schutzmechanismus in mir ausgelöst wurde. Ich habe fleißig an den Songs gearbeitet, ohne mich emotional einzubinden; ich habe nicht mal gemerkt, wie ich bei den Proben die Texte auswendig gelernt habe, ohne viel darüber nachzudenken.
Und am Abend der Premiere fällt mir auf, dass im Publikum jemand weint – zuerst eine Person, dann zwei, drei … und plötzlich, ganz unbemerkt, ging in mir etwas auf. Ich konnte wieder mitfühlen – und stellte fest, dass mir Tränen im Hals stecken. Aber ich habe trotzdem gesungen, es war gerade das Lied von Yuriy, der aus der Stadt Schastja kommt. Ins Deutsche übersetzt bedeutet Schastja „Glück“: „Ich komme aus dem Glück/ Ich komme aus dem Glück/ Und kehre in das Glück zurück“.
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