
© Maxim Rozenfeld
Ukrainisches Kriegstagebuch (162): Breakdance in Charkiw
Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.
Stand:
Ganz gleich, wo ich mich gerade aufhalte, mein Sonntagvormittag ist für den Flohmarktbesuch reserviert. Für mich ist dies eine Suche nach Schätzen (damit meine ich natürlich Schallplatten), die zugleich wie eine Form der Psychotherapie wirkt. Hier lässt sich gut über Vergänglichkeit nachdenken.
Am vergangenen Sonntag, als ich mich gerade auf den Weg machen wollte und im Badezimmer nach meiner Sonnenbrille suchte, hörte ich plötzlich Fluchen aus Irenas Zimmer. Als ich herauskam, meinte sie, dass es gerade eine laute Explosion gegeben habe. Wenige Minuten später folgte eine weitere. Ein Blick in Telegram zeigte uns, dass eine dritte Rakete erwartet werde. Wir setzten uns zunächst in den Flur und begaben uns dann ins Badezimmer. Laut Experten sind dies die sichersten Orte in der Wohnung, falls man es nicht in den Schutzbunker schafft.
Einen Tag zuvor habe ich von meinem Klassenkamerad gehört, dass letztes Jahr ein Haus direkt neben seinem durch eine russische Rakete zerstört wurde. Er meinte: „Ich habe es gesehen, und ich sage dir - wenn es dein Haus trifft, spielt es keine Rolle, ob du im Flur oder im Badezimmer bist, da wird dir sowieso nichts mehr helfen, aus und vorbei.“
Diese fünf Minuten erschienen mir unendlich lang und gehören zu den unangenehmsten Momenten, die ich je erlebt habe. Nachdem die Gefahr schließlich vorüber war, schwand meine Lust, rauszugehen. Ich saß in meinem Zimmer und überlegte, wie es den Menschen hier gehen sollte, die so etwas mehrmals am Tag erleben?
Der heutige Sonntag begann ruhig. Bereits um acht Uhr morgens war ich vor dem Opernhaus, um meine Freunde von der legendären Charkiwer Breakdance-Crew Turbo zu begrüßen. Denis, der Regisseur des Musikvideos, das wir bereits seit einigen Tagen in Charkiw drehen, plante Tanzszenen mit ihnen an verschiedenen erkennbaren Orten der Stadt - und natürlich im besten Licht, daher waren sie schon früh unterwegs.
Die Straßen sind noch leer, Charkiw wacht erst auf - zum Sound von unserem Song mit seinem monotonen Achtzigerjahre-Beat, dem Text aus den 1750ern und dem Breakdance von Turbo.
Von hier aus ist es nur eine Viertelstunde zu Fuß zum Flohmarkt, die Hryhorenka-Straße hinunter. Auf dem Weg fallen mir immer wieder Sperrholzplatten in alten sowie in neuen Wohnhäusern auf, die die Stellen der Einschusslöcher abdecken.
Ich stöbere durch Stapel alter Schallplatten und lege einige beiseite, als mein Handy klingelt. Am anderen Ende der Leitung ist Maxim Rozenfeld, und ich freue mich sehr, seine Stimme zu hören. Ich war mir nicht sicher, ob wir es diesmal schaffen würden, uns zu treffen, da ich gehört habe, er sei diese Woche in Lwiw. Doch er ist gestern nach Charkiw zurückgekehrt. Wir verabreden uns sofort, schnell kaufe ich die Platten und bestelle ein Taxi. In einer halben Stunde umarmen wir uns in einem Café im Pawlowe Pole Viertel.
Maxim hat wie immer viel zu erzählen. Er arbeitet an einem neuen Buch, das die Fortsetzung seines Projekts über die Fassaden von Charkiw darstellt. Lwiw hat ihn so inspiriert, dass es vielleicht bald ein weiteres Buch folgen wird. Außerdem hat er seine Stadtführungen wieder aufgenommen – schade, denn ich muss morgen bereits nach Berlin zurück und verpasse die nächste Tour!
Ich schlage nach dem Kaffee vor, die Gegend zu erkunden. Ich zeige Maxim, wo ich bis 1988 mit meinen Eltern wohnte und er schlägt vor, zum Barbie-Haus zu laufen. In wenigen Minuten stehen wir vorm fünfstöckigen Wohnhaus um die Ecke und Maxim erklärt, was er mit dem Barbie-Haus meinte. Als eine russische Rakete das Gebäude letztes Jahr traf, wurde die Außenwand zerstört. In den Tagen nach dem Beschuss ging das Leben in den Wohnungen des Hauses jedoch ganz normal weiter, was tatsächlich an ein Puppenhaus erinnerte und äußerst surreal wirkte. Inzwischen wurde die Außenwand wiederhergestellt, das Barbie-Haus bleibt aber ein Teil der Geschichte dieser Stadt, eine der vielen Erinnerungen an ihr Leiden, ihren Alltag und ihren Widerstand in den Zeiten des Großen Krieges.
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