
© Yuriy Gurzhy
Ukrainisches Kriegstagebuch (177): Weinen statt Networking
Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.
Stand:
28.10.23
Eigentlich hätte ich mir gewünscht, etwas Zeit zu Hause verbringen zu können. Aber das ging nicht – bereits vor Monaten hatte ich eine Einladung angenommen, Ende Oktober an einer Diskussion bei der weltgrößten Weltmusikmesse Womex teilzunehmen, die dieses Jahr in A Coruña in Galicien stattfindet.
Wie hätte ich da nein sagen können? Von Womex höre ich seit 20 Jahren ständig. All meine Bekannten, die in der Weltmusikszene tätig sind, waren bereits da, manche von ihnen pilgern sogar jedes Jahr dorthin. Manche Bands haben erst nach einem Showcase bei Womex den Durchbruch geschafft. Alle Konzertagenten sind dort, ebenso wie Plattenfirmen- und Radioleute, Manager und Journalisten. Hat man sie beeindruckt, muss man sich keine Sorgen um Konzerttermine mehr machen.
Seit 2022 ist auch die Ukraine mit einem eigenen Stand auf der Womex vertreten. Es ist erfreulich zu sehen, dass das Land auch in dieser Branche endlich Beachtung findet. Gleichzeitig vermute ich, dass der Grund dafür die erschütternden Ereignisse der letzten zwei Jahre sind, die die Aufmerksamkeit der Welt auf die Ukraine gelenkt haben. Dann verfliegt die Freude schnell.
Es gibt keine Direktflüge von Berlin nach A Coruña, meine Reise geht über Malaga und der erste Flug startet früh um 6 Uhr. Ich stelle den Wecker auf 2:20, kann aber nicht einschlafen, da ich immer wieder husten muss. Schließlich gebe ich die Einschlafversuche auf und greife stattdessen zu meinem Laptop.
In meinem Facebook-Feed tauchen Erinnerungen aus den vergangenen Jahren auf – es ist verrückt, wie ereignisreich und intensiv diese Oktober-Tage immer sind. Vor genau drei Jahren haben die Schüler*innen aus Donbass und ich das Album „New Donbass Symphony“ in Popasna produziert. Inzwischen ist Popasna besetzt, die Schule, in der wir aufgenommen haben, ist von russischen Raketen zerstört, ihr Direktor ist im Kampf gegen die Eindringlinge gefallen, und meine jungen Kolleg*innen sind über die Städte der Ukraine und Europas verstreut.
Vor zwei Jahren probten Serhij Zhadan und ich vor der Kiewer Premiere unseres Fokstroty-Projektes, und vor einem Jahr performten wir diese Songs für eine euphorische internationale Zuschauermenge auf der Frankfurter Buchmesse. Erst letzte Woche endete die ukrainische Tour zu unserem neuen Album SkovoroDance, so ein Zufall.
Es fühlt sich merkwürdig an, nur wenige Tage später bei Womex anzukommen, wo freundliche, kunstvoll gekleidete Menschen aus der ganzen Welt sich voller Enthusiasmus über die Musikbranche austauschen. Ein strahlender griechischer Radiojournalist begrüßt mich mit den Worten: „Hey, ich spiele deine Songs in meiner Sendung schon seit 20 Jahren. Schön, dich kennenzulernen, Yuriy!“
Plötzlich taucht mein britischer Freund Jonathan Walton aus dem Nichts auf. Das letzte Mal haben wir uns im Dezember 2022 in Lwiw getroffen, wo er als Musiktherapeut mit Kindern aus der Ostukraine gearbeitet hat. Wir umarmen uns, während an uns ein Riese mit einem volltätowierten Gesicht und eine Frau in rotem Vagina-Kostüme vorbeilaufen.
Ich blicke zu Jonathan rüber, während ich mein Statement am Samstagmorgen im Rahmen der Diskussion zur Lage der Musikbranche in der Ukraine abgebe. Es beruhigt mich immer, eine vertraute Person im Publikum zu haben. Die Veranstaltung ist gut besucht, und nach unserer Präsentation bleiben Alona Dmukhovska von Musik Export Ukraine und Oleksandra Yakubenko von Artist At Risk Connection noch eine Weile, um die Fragen der Besucher zu beantworten.
Den Rest meiner Zeit verbringe ich auf dem ukrainischen Stand. Alle Ukrainer*innen, die es zu Womex geschafft haben, sind hier. Obwohl ich die meisten von ihnen zum ersten Mal sehe, fühlt es sich gleich von Anfang an, als ob wir uns schon immer gekannt haben. In einem Instagram-Beitrag aus unserer neu gegründeten ukrainischen Womex-Gemeinschaft schreibt jemand: „Während an den meisten Ständen Networking im Vordergrund steht, wird bei uns fast ausschließlich geweint.“ Und in gewisser Weise stimmt es. Hier umarmen sich die Menschen fast ununterbrochen, es wird gesungen, und die alten ukrainischen Volkslieder klingen so frisch und so relevant, als wären sie erst gestern komponiert worden.
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