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Papa Karlo bei ihrem Auftritt.

© Yuriy Gurzhy

Ukrainisches Tagebuch (107): Papa Karlo spielen im Charkiw-Park

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

Stand:

5.2.2023
Nach dem Schulabschluss hatte ich nur ein Ziel im Leben, und zwar berühmter Rockmusiker zu werden. Meinen Eltern gelang es, mich von der Notwendigkeit eines Plans B zu überzeugen – für den unwahrscheinlichen Fall, dass es nicht klappen sollte. Es wurde beschlossen, dass ich Fremdsprachen studieren sollte.

Heute muss ich an diese nie stattgefundene Karriere denken, weil ich plötzlich als Dolmetscher dringend gefragt bin. Die Band Papa Karlo spielt zum allerersten Mal in Berlin und hat viel zu erzählen, jedoch sprechen die Musiker*innen kein Deutsch.

Ich bin in der Nacht aus Bautzen zurückgekehrt, wo gestern endlich die Premiere des Kindermusicals „Zurück mit dem Licht!“ im Thespis Zentrum stattfand. Ursprünglich war sie für Dezember geplant gewesen, aber ein heimtückisches Virus hat unsere jungen Schauspieler*innen außer Gefecht gesetzt. Das war sehr schade, die Vorstellung hätte ideal in die Weihnachtszeit gepasst, aber auf der anderen Seite habe ich mich sehr über die Gelegenheit gefreut, alle Beteiligten wiederzusehen.

Die Wochen nach der gescheiterten Dezember-Premiere haben unserem Musical eigentlich gutgetan – es gab viel Zeit für Proben, und als ich mir am Donnerstag das Ergebnis angeschaut habe, war ich vom Fortschritt schwer beeindruckt. Die Kids wirkten auf der Bühne viel sicherer, sowohl mit den Texten ihrer Rollen als auch mit den Songs, die wir mit Grigory Semenchuk für sie geschrieben haben.

Manche von diesen jungen Schauspieler*innen und auch ihre Eltern habe ich bereits 2020 kennengelernt, als ich im Donbass mit dem internationalen Team der Theatermacher*innen Misto To Go unterwegs war. Ich bin froh, dass sie seit März 2022 in Deutschland sind und außer Gefahr, muss aber an ihre Heimatstädte denken, an die Orte, wo wir uns damals begegnet sind – und an die aktuellen Bilder davon, wo meistens nichts außer Ruinen zu sehen ist …  

Seit 27 Jahren wohne ich in Prenzlauer Berg und komme nur ganz selten nach Steglitz-Zehlendorf, aber heute musste ich unbedingt hin. Als jemand, der aus Charkiw kommt, darf ich dieses historische Geschehnis einfach nicht verpassen: Eine Charkiwer Band spielt im Charkiw-Park: ein Pflichttermin! 

Der Sound ist fast niedlich, aber die Texte voller Wut

Auf dem Weg nach Steglitz komme ich im Zug der U9 dazu, Nachrichten auf meinem Handy zu lesen. Egal, welchem Portal man folgt, die News aus der Ukraine sind seit fast einem Jahr oft bedrückend. In der Nacht wurde Charkiw wieder beschossen, zwei Raketen haben ein Universitätsgebäude im Stadtzentrum getroffen, auch ein Wohnhaus wurde zerstört, bis jetzt wurden drei Tote gemeldet.  

Der Charkiw-Park befindet sich nur wenige Meter vom Bahnhof Rathaus Steglitz entfernt. Ich bin kurz vor Konzertbeginn da, umarme Wasil Riabko, den Gitarristen und Sänger der Band. Sein älterer Bruder, der seit der Gründung von Papa Karlo immer Schlagzeug gespielt hat, ist gerade im Militär und durfte nicht auf die Europa-Tour mitkommen. Die Musiker*innen ließen einen neuen Drummer das Konzertprogramm einstudieren. Und einen Tag vor der Reise stellte sich heraus, dass auch der Bassist nicht ausreisen darf. Die Band spielt nun unplugged, überzeugt aber auch in dieser reduzierten Besetzung. 

Ihr Set besteht hauptsächlich aus den Songs, die letztes Jahr geschrieben wurden. In den Pausen muss ich Wasils Ansagen übersetzen. Auch für den Teil des Publikums, der kein Ukrainisch spricht, verändert sich die Wahrnehmung der Lieder, sobald man versteht, wovon ihre Texte handeln.

Musikalisch bewegt sich Papa Karlo zwischen altmodischem Rock ’n’ Roll und Country, mit Akustikinstrumenten und dem Frauengesang klingt die Band fast schon niedlich, jedoch sind ihre Lyrics voller Wut. „Der nächste Song heißt ,23 Uhr’“, kündigt Wasil an, ich übersetze. „Seit Februar 2022 haben unsere russischen Brüder uns monatelang täglich um 23 Uhr mit ihren Bomben und Raketen beschossen. Dieses Lied haben wir für sie komponiert.“ 

Trotz all des Horrors schimmert bei den Songs von Papa Karlo Optimismus durch, und dafür ist ihr Publikum heute dankbar. Ich weiß, sie kommen wieder – hoffentlich im Sommer, wenn es warm und sonnig ist. Und die Bandbesetzung komplett. Und die Ukraine den Krieg gewonnen hat.

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