zum Hauptinhalt
Die Dresdener Dichterin Angela Krauß erkundet in "Eine Wiege" ihr Leben.

© imago/STAR-MEDIA

Angela Krauß' neues Buch"Eine Wiege": Veränderung? Aufsässig wenig!

Angela Krauß erkundet mit dem wunderbar poetischen Buch „Eine Wiege“ ihr Leben - und schreibt doch mehr über das Menschsein als sich selbst.

Ein Kind auf einem Roller, Getreidefelder, Blüten, ein Briefkasten: Ausgangspunkt dieser Reise zurück in die eigene Kindheit waren für die Leipziger Dichterin Angela Krauß kleine Schwarz-Weiß-Fotografien, die der Vater in den fünfziger Jahren gemacht hat. Sie zeigen immer wieder eine Frau im geblümten Kleid, mehrere spielende Kinder, einmal auch einen Mann von hinten, vielleicht derjenige, der die anderen Bilder gemacht hat. Vater, Mutter, Geschwister: Man kann nur vermuten, dass die Fotos genau dies zeigen, dass sie von der elementaren Zusammensetzung einer Familie erzählen. Damals waren es Versuche, einen Augenblick festzuhalten. Jetzt sind es Abbilder von Szenen, die so fern gerückt sind, dass sie der Erinnerung kaum noch Zugang erlauben.

Angela Krauß versucht, diese Bilder mit der Sprache einzuholen. Was daraus entsteht, sind aber keine Bildbeschreibungen und auch keine Versuche, das Abgebildete in eine Geschichte einzubetten. Man könnte ihre Textstücke für Gedichte halten; Angela Krauß nennt sie eine „Rede in Versen, die uns daran erinnert, wo wir inmitten rasanter Bewegungen zu Hause sind“. So schreibt sie, neben einem Foto mit der Mutter und drei Kindern in einer weiten Feldlandschaft drauf: „Die Ruhe der Dinge / bleibt erstaunlich unangetastet / im Fluss des Geschehens. / Die Dinge verändern sich / geradezu aufsässig / wenig. Demnächst / werde sie als Art aussortiert werden. / Sie noch öfter auszutauschen reicht nicht, / um sie zum Schweigen zu bringen.

Die Vergangenheit als Ort

Das erste Bild zeigt das kleine Mädchen mit dem Holzroller an einer Straßenecke. Vermutlich die Autorin, die nun darüber schreibt wie über eine Fremde: „Ich bin ein Kind, / aber nicht dieses. / Ich bin das andere, / das mich bewohnt.“ Um diese Differenz zwischen der, die sie einmal gewesen ist, und der, die sie in sich trägt, kreist dieses Buch – und um die rasende Bewegung in der Zeit, mit der sie sich davon entfernt, während sie nach dem ruhenden Ausgangspunkt sucht.

So vollzieht sie eine komplizierte Erinnerungsbewegung, die zugleich sich selbst stets in den Blick nimmt und über die naive Vorstellung gelangt, das Vergangene wäre ein Ort, der sich betreten oder auch nur rekonstruieren ließe. Krauß spürt dem lebenslangen Prozess nach, wie eine Person Konturen gewinnt im flirrenden Weltzusammenhang undurchschaubarer Sinneseindrücke und fragt nach dem, „was noch atmet, was widerspricht“.

Auffallend, dass auf keinem einzigen Foto – darunter viele Straßenszenen – Autos zu sehen sind. Man befindet sich offenkundig in einer Welt, die mit der heutigen nichts mehr zu tun hat und die geradezu idyllische Züge besitzt. Da geht es nicht um „Geschichte“ und gesellschaftliche Einordnung; von der DDR, in der Angela Krauß – geboren 1950 in Chemnitz – aufgewachsen ist, ist nichts zu sehen.

Leichte Literatur vom allerschönsten

„Geschichte zernichtet“, schreibt sie, und so gilt all ihre Konzentration dem existenziellen Raum, aus dem heraus wir leben. Es sind einfache Sätze, die sie dem Geschichtlichen entgegensetzt: „Im Mai badete mich meine Mutter in Liebe wie ein Neugeborenes.“ So etwa. Denn erst so wird der Mensch zum Mensch. Auch schreckliche Momente gehören dazu, der Tod der Schildkröte oder der Selbstmord des Vaters. Die Vatergeschichte hat sie schon einmal verarbeitet, in der Erzählung „Der Dienst“. Daran knüpft sie nun an, doch die Ereignisse kommen nur noch als Stimmungsflirren in den Blick.

„Eine Wiege“ ist ein wunderbar leichtes, poetisches Buch, mehr Lyrik als Prosa, mehr Erkundung des Menschseins als Autobiografie, mehr Sprachstrom als Erzählung. Und doch entsteht zusammen mit den Fotografien das Bild einer bestimmten Person, ihrer Herkunft und ihrer Zeit: Literatur vom allerschönsten. Die titelgebende Wiege übrigens, Symbol der Geborgenheit und der Herkunft, wird zum Untertitel eines Fotos der Mutter, die lasziv auf dem Rasen liegt, die Arme wie Schmetterlingsflügel neben dem Kopf gefaltet. Man könnte die Geste für das Bild einer Wiege halten.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false