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Markus Stenz

© MolinaVisuals

Auftakt des Festivals "Mythos Berlin": Verführung und Agitation

Lang leben die Zwanziger Jahre! Zum Auftakt des Festivals "Mythos Berlin" zeigen Markus Stenz und das Konzerthausorchester, welche stilistische Vielfalt die Musik der Zwischenkriegszeit prägte.

Die Garderobenfräulein tragen Straußenfedern im Haar, die Foyers sind mit historischen Plakaten und Topfpalmen zu Kaffeehäusern mutiert, der Weg zu den Toiletten führt durch silbrige Lamettavorhänge und im Großen Saal werden vor jedem Stück Texttafeln auf eine Leinwand projiziert, wie zu Stummfilmzeiten. Im Konzerthaus am Gendarmenmarkt gibt man sich viel Mühe, den Geist der Goldenen Zwanziger aufleben zu lassen. Beim Festival „Mythos Berlin“ sollen bis kommenden Sonntag alle Facetten des vielfach verklärten Jahrzehnts beleuchtet werden, einschließlich der Parallelen zur Hauptstadt von heute. Das Motto: „Zehn Tage wach!“.

Nicht für eine schlaflose Nacht, wohl aber für einen inspirierenden Abend sorgen zum Festivalauftakt der Dirigent Markus Stenz und das Konzerthausorchester. Vor der Pause geht es um Verführung, danach um Agitation.. Überwältigende, äußerst raffiniert instrumentierte Werke von Ferruccio Busoni und Franz Schreker stehen für die Tradition der Spätromantik, die ja keineswegs durch die Erfindung der Zwölftontechnik abgeschnitten wurde. Herrlich lassen die Musiker Schrekers Klangpracht aufrauschen, machen die Suite aus „Der Geburtstag der Infantin“ nach Oscar Wildes grausamem Märchen zum wahrhaft königlichen Vergnügen. Und sie umgeben in den lyrischen Gesängen „Vom ewigen Leben“ die Walt Whitmans Verse beseelt interpretierende Annette Dasch mit einem wunderbar wuchernden Klanggewand. In die Sphären allerhöchster Verfeinerung überhöht auch Busoni im Konzertwalzer von 1920 einen ursprünglich volkstümlichen Tanz.

Die Gegenreaktionen auf diese dekadente l’art pour l’art arbeitet der Dirigent mit dem hoch motivierten Orchester im zweiten Programmteil auf erhellende Weise heraus: Alban Berg schreibt mit „Wozzeck“ eine Oper, die vom Schicksal der Ärmsten der Armen erzählt. So eindrücklich, wie Annette Dasch die Marie singt, so mitfühlend, wie das Konzerthausorchester musiziert, scheint es ganz logisch, dass diese harte Geschichte nicht mehr mit tonalen Harmonien erzählt werden konnte. Düster-expressionistisch erklingt Heinz Tiessens „Vorspiel zu einem Revolutionsdrama“, mit Blechbläserschärfe und viel Biss Hanns Eislers Musik zum Film „Kuhle Wampe“: Vorwärts, und nicht vergessen!

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