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Hör BÜCHER: Vinetas Gespenster

Vor mir liegt ein Schmuckkästchen! Bevor ich dessen Inhalt ans Licht hole: Schon lange frage ich mich, weshalb überhaupt noch Hörbücher so billig in 08/15-Plastikschachteln eingeklemmt werden müssen?

Vor mir liegt ein Schmuckkästchen! Bevor ich dessen Inhalt ans Licht hole: Schon lange frage ich mich, weshalb überhaupt noch Hörbücher so billig in 08/15-Plastikschachteln eingeklemmt werden müssen? Die lassen sich nur umständlich öffnen, liegen schlecht in der Hand, oder sie fallen gleich ganz auseinander. Nach dem Gebrauch zögert man, sie in ein seriöses Buchregal zu räumen; bei mir landen sie für gewöhnlich auf einem wackeligen Stapel im hintersten Winkel des Zimmers. Dort vergesse ich sie dann.

In meiner internen Wertung „Schönstes Hörbuch“ bekommt „Die russische Fracht“ von Oleg Jurjew (Kein und Aber, 2011) einen ersten Preis. Es wollen eben auch, wenn man aus den Sinnlosigkeiten des Alltags in die Welt der Hörbücher flüchtet, die Sinne angesprochen werden. Nun ist Schönheit nicht allein eine Frage des Äußeren, sondern ebenso der Funktionalität, auch in dieser Hinsicht bleibt hier nichts zu wünschen übrig: Der kleine Pappkarton ist bequem auf- und zuzuklappen; neben den übersichtlich beschrifteten Pappschubern, in denen die CDs stecken, die man leicht(!) herausziehen kann, enthält er ein hochinformatives Booklet; darin ist die Dankesrede abgedruckt, die Jurjew 2010 anlässlich der Verleihung des Hilde-Domin-Preises für Literatur im Exil hielt.

Das Cover zeigt eine dunkle, gebeugte Gestalt, die über das Eis stapft. Vor ihr ragt der riesige, schwarze Rumpf eines Schiffes auf, das offenbar feststeckt. Man könnte es für einen gestrandeten Walfisch halten. Wenn man die Schuber – ein simples 6-Teile-Puzzle! – folgendermaßen auf den Tisch auslegt: CD 1 bis 3 in einer Reihe und direkt darunter CD 4 bis 6, erkennt man das rätselhafte Schiff. So bekommen also auch die Hände bei diesem Hörbuch (hervorragende Gestaltung: Sandra Rizzi!) etwas zu tun, während wir zuhören.

Und was für eine Geschichte wir hier zu hören bekommen! Auf welchem Kurs dieses Schiff unterwegs ist – schwer zu sagen. Steuert es das sagenhafte Vineta an? Elke Erb und Olga Martynova, die diesen Roman aus dem Russischen übersetzt haben, verzichten zum Glück auf den Originaltitel „Vineta“, der im Russischen exotisch klingt, im Deutschen aber nur ein Allerweltstitel wäre. Und man fragt sich natürlich: Welche „russische Fracht“ hat dieses Schiff an Bord?

Einmal wird der Verdacht laut, es könne sich um Leichen aus Russland handeln, exportiert nach Deutschland, wo man das ewige Leben entdeckt hat, aber aus Tarnungsgründen noch immer fingierte Beerdigungen stattfinden lassen muss... Überhaupt, diese „Atenov“ scheint ein Geisterschiff zu sein. Lässig schlendern die Gespenster des Gestern über das Deck.

Harry Rowohlt liest diesen wunderbar haarsträubenden Roman. Ich war zunächst skeptisch. Wenn jemand mit derart vielen passenden Markenzeichen ausgestattet ist, als bärtiger, bärbeißiger Poltergeist im Matrosenhemd und bekennender Liebhaber hochprozentigen Alkohols, könnte solch eine Sprecherwahl ebenso passen wie die berühmte Faust aufs Auge – und entsprechend ins Auge gehen; der Text würde wie durch einen Fleischwolf gedreht, nichts von seiner Spezifik bliebe mehr übrig. Dem ist, ausdrücklich, nicht so! Rowohlt stellt sich ganz in den Dienst des Romans, er liebt Jurjews verrückten Text.

Auch Jurjew selbst ist zu hören, zuerst auf CD 1, Track 5, wo er als Kapitän dieses Seelenverkäufers Zeilen aus einem russischen Gedicht liest. Keine Frage, diese Box kommt ins Buchregal zu den Kostbarkeiten. Vom Format her (13 x 13 cm) passt sie übrigens genau neben die mattgrüne Box von Vladimir Nabokovs „Pnin“ (Der Audioverlag, 2002).

„Pnin“, gelesen von Ulrich Matthes, ist mir nach Hunderten von Hörbüchern noch immer das allerliebste. Allein, wie der große Matthes den zerstreuten russischen Professor mal mit einem amerikanischen Russisch, mal mit einem russischen Amerikanisch versieht, ist eine Klasse für sich. Wenn ich CD 1 einlege, weitet sich sofort der Raum, und wie schon so oft sitze ich mit dem armen Timofey Pnin im falschen Zug und habe keine Ahnung, wohin die Reise mit uns gehen wird.

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