
© Galerie Michael Werner / VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Vom Gedicht zur Malerei: Die helle Seite des Mondes
Eine Ausstellung in der Galerie Michael Werner feiert das Potenzial künstlerischer Grenzgänge.
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Was derzeit in den Räumen der Galerie Michael Werner in der Hardenbergstraße zu sehen ist, kann getrost als ein museales Kabinettstück der Literatur- und Kunstgeschichte bezeichnet werden, das mit „Mallarmé, Broodthaers, et les autres“ von flanierenden Grenzgängern zwischen Dichtung und bildender Kunst geschrieben und von bibliophilen Liebhabern wie dem Kölner Sammler und Arzt Reiner Speck gesammelt wurde. Die Geschichte beginnt kurz vor dem Lebensende des französischen Dichters Stéphane Mallarmé 1898, als dieser mit „Un Coup de Dés jamais n’abolira le hasard“ (Ein Würfelwurf tilgt niemals den Zufall) eines der geheimnisvollsten Gedichte in die Welt setze.
Hoch umstritten und bewundert für seine freie Typografie und seinen rätselhaften Inhalt, entfaltete sich mit der posthumen Erstausgabe im Verlag Gallimard 1914 eine schier unglaubliche Wirkungsgeschichte. Es war René Magritte, der seinen belgischen Landsmann Marcel Broodthaers drei Jahrzehnte später auf das Gedicht aufmerksam machte, als dieser selber noch als Dichter zu reüssieren suchte, bevor er 1964 im Alter von 40 Jahren seinen programmatischen Wechsel zur bildenden Kunst vollzog. Das nächtliche Zwiegespräch zwischen den beiden Seiten des Mondes, wie Broodthaers Kunst und Literatur in einem seiner Gedichte bezeichnete, setzte dieser jedoch bis zu seinem frühen Lebensende 1976 fort.
So verwandelte er Mallarmés berühmtes „Poème“ in ein „Image“, indem er unter genauer Wahrung der originalen Typografie die Textzeilen durch schwarze, horizontale Balken ersetze. Die von der Wide White Space Gallery in Antwerpen und der Galerie Michael Werner in Köln 1969/70 herausgegebene Publikation, die mittlerweile als das früheste und radikalste Beispiel einer Appropriation gilt, begleitete Broodthaers‘ berühmte „Exposition littéraire autour de Mallarmé“. Aus dieser Ausstellung erwarb der Kölner Speck mit 28 Jahren das herausragende Schriftbild „Un Coup de Dés“, das zur Initialzündung für seine Sammlung zeitgenössischer Kunst wurde und auf nahezu allen großen Retrospektiven weltweit zu sehen war.
Mehr als 50 Jahre später bildet die Leihgabe nun erneut das Herzstück der aktuellen Ausstellung, die auf Einladung von Michael Werner weitere Werke aus der Sammlung Speck, dem Nachlass des Künstlers und seiner eigenen Privatsammlung zu einer annähernden Rekonstruktion mit Fortsetzung verbindet. Neben Werken aus den historischen Ausstellungen von 1969/70, vor allem den bekannten Plastikschildern mit Schriftzeichen, Symbolen und Zahlen sowie den drei verschiedenen Ausgaben von Broodthaers‘ Mallarmé-Bearbeitung, sind weitere Hauptwerke wie das Tafelbild „Il n’y a pas des Structures Primaires“ (1968) oder das zweiteilige „Le très riches heures du Duc de Berry“ (1974) zu sehen.
Das rätselhafte Gedicht inspirierte immer wieder Künstler
Dazwischen ist in nostalgischen Holzvitrinen eine exquisite Auswahl bibliophiler Raritäten aus der umfangreiche Mallarmé- und Proust-Bibliothek Reiner Specks zu bewundern, die sich um das berühmte Gedicht „Un Coup de Dés“ ranken; besonders eindrucksvoll die Zimelien, in denen Paul Valéry seine Bewunderung und Marcel Proust seine Abkehr von Mallarmé zum Ausdruck bringt. Dass dieses Gedicht nicht nur Broodthaers, sondern auch viele andere Künstler zu Illustrationen, Paraphrasen und Fortschreibungen inspiriert hat, kann man im Entrée der Ausstellung wunderbar nachvollziehen. Von Illustrationen durch Odilon Redon oder André Masson bis zu Appropriationen von Mario Diacono, Jérémie Bennequin, Wolfram Erber, Elsworth Kelly, Michalis Pichler, Cerith Wyn Evans und Rodney Graham reichen die Künstlerbücher, die nur eine Auswahl aus dem Sammlungsbestand darstellen.
Ohne das Geheimnis, das sich um Mallarmés Gedicht „Un Coup de Dés“ und all seine Annäherungen rankt, je lüften zu können, scheint es in der Metapher des Würfelwurfs und Schiffbruchs um ein Lebensgefühl der Kontingenz zu gehen, das in diesem Gedicht über das Dichten aufgehoben ist. Um das darin beschworene Sternenbild aufzugreifen, kann man in der Ausstellung „Mallarmé, Broodthaers, et les autres“ eine wahre Sternstunde erleben, in der beide Seiten des Mondes hell leuchten. Galerie Michael Werner, Hardenbergstr. 9A, bis 16. Dezember. Katalog (dt./engl.): 38 Euro
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