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Kultur: Von der Farbe ins Licht

Ordnung ist immer gemacht: Neues von der englischen Dichterin Lavinia Greenlaw

In der Mitte ihres neuen Gedichtbandes hat Lavinia Greenlaw ein kleines lyrisches Alphabet versteckt. Unter „B“ wie „Bitumen“ heißt es da etwa: „eine altmeisterliche Tönung / Dampf der aufsteigt, Nebelsuppe“. Das „E“ gilt hier der „Erde“ und meint: „Berührung des Wurmes / unter der Haut“. Und ähnlich geht es immer weiter, jedem Buchstaben seinen Begriff, jedem Begriff seine Verse, ein grandioser Sprachzauber, der kurz vor Ende noch das „W“ der „Welle“ streift: „eine graduelle Frage / zwischen vierzehn und dreißig Millionstel / eines Inches“.

So klein können die Veränderungen in Lavinia Greenlaws Gedichten manchmal sein. Doch diese Bruchteile genügen, um die Wahrnehmung aus den Angeln zu heben. Und plötzlich lernen wir die Dinge und die Sprache neu zu sehen. Die Landschaft schmiegt sich hier dem Körper an, und das Pathos ähnelt der Diktion der Wissenschaft.

Aber es ist nicht nur die Sichtweise, die sich verschiebt, auch die Welt bleibt keineswegs gleich: „Wenn die Dinge sich von sich selbst abheben“, schreibt Greenlaw in einem ihrer längeren Gedichte, „können wir mit Worten nichts tun, außer ihnen mit einem / Vergleich zu begegnen. Warum nicht sprachlos bleiben?“ Ein Glück, dass Greenlaw der gespreizten Rede zwar misstraut, aber nicht ins Schweigen flüchtet. Vielmehr schreibt sie Gedichte, die ebenso klar sind wie opak, kompakt und zugleich durchlässig. Transparente Hüllen aus Sprache, in denen die Welt sich fängt wie „Winterlicht in gefrorenem Wasser“.

Die „Welt“ – das meint zunächst einmal die eigene Kindheit, Erinnerungen an das Elternhaus und die ersten Spiele, an Nachtfahrten und das Erleben von Landschaft. Lavinia Greenlaw wurde 1962 in London geboren, doch aufgewachsen ist sie in einem Dorf der Grafschaft Essex, „wo das Auge Meer von Fluss / Hügel von Tal nicht unterscheiden kann“. Ihre biografischen Erkundungen führen sie immer wieder zu jenen Momenten, da die Welt zu eng erscheint und der Körper wie ein Gefängnis. Ein dauerndes „Fluchtspiel“, mit dem einzigen Wunsch, die Hüllen zu sprengen, einfach „in die Luft abzuheben“. Es ist der Weg zu einem Leben in der Sprache, den Greenlaw hier skizziert. Zugleich horcht sie die eigene Geschichte auf die Stimmen der Zeit ab. Der Protestjargon der siebziger Jahre findet ebenso Erwähnung wie der Vietnamkrieg – ein „Zeitalter verzögerter Blasenbildung“.

In ihren besten Stücken gelingt es Lavinia Greenlaw, die Sehnsucht nach der Luft und den Traum vom perfekten Gedicht in genaue Naturbilder einzusenken. Mit dem Wissen, dass Ordnung nie gegeben, sondern gemacht ist, durchstreift sie die Eislandschaften des Nordens. In der Kälte und den anderen Farben scheint der Körper zu erstarren, das Ich atmet Eis und die Zeit friert langsam ein. „Dieses Blau ist nicht gemacht oder gewachsen. / Es hat kein Gewebe, nichts / zum Anfassen, Schmecken oder um eine / Erinnerung zu wecken“. Noch einmal scheint in den Versen jene Klarheit auf, die schon zu Beginn des Bandes beschworen wird.

Dem Übersetzer fordert Greenlaws Assoziationskunst einiges ab. Raphael Urweider hat bisweilen kluge Lösungen gefunden, all die Anspielungen und Redewendungen im Deutschen leuchten zu lassen. Leider glänzt die Grammatik nicht ganz so stark. Manche der Übersetzungen sind zu wörtlich, auch hätte die eine oder andere Umstellung im Satzbau nicht geschadet. Dennoch – die Verwandlungskraft von Greenlaws Versen bleibt spürbar, eine „Umsiedlung von Farbe in Licht“.

Lavinia Greenlaw : Minsk. Gedichte. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Englischen von Raphael Urweider. DuMont Verlag, Köln 2006.

130 Seiten, 19,90 €.

Nico Bleutge

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