Kultur: Vorsicht, bissiger Künstler!
Deutsche Kritiker wissen, dass sie nicht zu nah an den Schauspieler Thomas Lawinky herantreten dürfen, jedenfalls nicht mit einem Spiralblock in der Hand. Ihre Kollegen in den USA machen einen Bogen um Vincent Gallo.
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Deutsche Kritiker wissen, dass sie nicht zu nah an den Schauspieler Thomas Lawinky herantreten dürfen, jedenfalls nicht mit einem Spiralblock in der Hand. Ihre Kollegen in den USA machen einen Bogen um Vincent Gallo. Dessen Road- und Blowjob-Movie The Brown Bunny lief 2003 als Wettbewerbsbeitrag in Cannes und wurde von dem Filmpapst Roger Ebert als schlechtestes Werk in der Geschichte des Festivals bezeichnet. Woraufhin Gallo ihn öffentlich verfluchte. Er wünschte ihm Krebs. Kurz darauf wurde bei Ebert Prostatakrebs diagnostiziert, und statt seinen Fluch zu bedauern, legte Gallo nach. Der Krebs sei die gerechte Strafe für den Verriss. Ebert reagierte mit bewundernswerter Gelassenheit: Die Videoaufzeichnung seiner Darmspiegelung habe ihm besser gefallen als „The Brown Bunny“.
Unannehmlichkeiten gab es auch für Chloë Sevigny, die Gallo nach Drehbuchvorgabe oral befriedigt hatte: Die William-Morris-Agentur weigerte sich, sie länger zu vertreten. Was ist das für ein Film, der so viele Kontroversen ausgelöst hat? Ist er wirklich so schlimm? Freitag und Sonnabend kann man sich im Filmkunst 66 ein eigenes Urteil bilden. Oder auch nicht, denn Gallo hat „The Brown Bunny“ von 119 auf 89 Minuten gekürzt. Was fehlt: quälend lange Aufnahmen durch die Windschutzscheibe, die immer schmutziger wird, weil Fliegen dagegenklatschen. Der Blowjob dagegen ist dringeblieben – gut so, denn es handelt sich keineswegs um eine spekulative Einlage; der Akt wurde in eine zärtliche Liebesszene integriert. Der Rest? Ein solides Roadmovie, wie man schon viele gesehen hat. Gallo am Steuer, Gallo beim Tanken, Gallo beim Flirten, Gallo beim Grübeln. Ein Muss für Gallo-Fans.
Wenn der Hauptdarsteller eines Films zugleich Regie führt, ist die Gefahr des Chargierens groß. Niemand fordert ihn auf, sein Temperament zu zügeln. Bei Peter Lorres einziger Regiearbeit, der Triebtäterstudie Der Verlorene (1951), war es umgekehrt. Lorre wirkte müde, sogar unbeteiligt. Vielleicht hatte ihn die Inszenierung zu sehr beansprucht, oder er wollte durch zombiehaftes Spiel die fatalistische Stimmung verstärken (Dienstag und Mittwoch im Central). Der Film handelt von einem Arzt, der im Affekt seine Freundin tötet, von der NS-Justiz gedeckt wird – man braucht ihn für die Forschung – und den Drang verspürt, weitere Frauen umzubringen. Lorres Pech war, dass Fritz Langs „M“ gerade eine triumphale Wiederaufnahme erlebte, daneben wirkte „Der Verlorene“ nur als Abklatsch und der Hauptdarsteller wie ein Schatten seiner selbst. Heute beeindruckt der Versuch, in der frühen Nachkriegszeit Themen wie Schuld und Verdrängung zu behandeln.
Noch ein Film im Schatten, und zwar im Schatten der Spaghetti-Western, ist Friedhof ohne Kreuze (1968) von und mit Robert Hossein. Der hartgesottene Franzose, der Ende dieses Jahres 80 Jahre alt wird, ist als Revolverheld zu sehen – im Auftrag einer schönen Witwe (Michèle Mercier) erledigt er die Mörder ihres Mannes (Mittwoch im Babylon Mitte). Hossein orientiert sich an der formalen Strenge seines italienischen Kollegen Sergio Leone, dem er den Film auch gewidmet hat. Am Drehbuch hat Dario Argento mitgeschrieben; immerhin, so bluttriefend wie dessen spätere Horrorepen ist dieser Lasagne-Western nicht geraten.
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