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Das Beben der Dreißiger. Cover von „Leben verboten!“.

© Verlag Das vergessene Buch

Wiederentdeckung von Maria Lazar: Warum ein fast 100 Jahre altes Buch zum Bestseller wird

Maria Lazar entwarf 1932 in „Leben verboten!“ ein Sittengemälde Europas. Der Roman wurde nun veröffentlicht - und zum Bestseller. Die Kolumne Fundstücke.

Peter von Becker schreibt an dieser Stelle regelmäßig über literarische Fundstücke. Nächste Woche: Gregor Dotzauer über Zeitschriften und Websites.

Ein Mann hat einen Flug gebucht, seine Frau und die Mitwelt glauben ihn im Flieger, aber tatsächlich liegt er im Bett einer heimlichen Geliebten. Da erfährt er, dass die Maschine abgestürzt ist und er wie alle Passagiere des Flugs für tot gehalten wird. Der Mann ist gerettet – und sitzt nun doch peinlich in der Patsche.

Diese Pointe hatte der frühere „Spiegel“-Kulturchef und Tagesspiegel-Herausgeber Hellmuth Karasek Mitte der 1980er Jahre unter seinem Pseudonym Daniel Doppler bereits für eine boulevardeske Seitensprungkomödie genutzt.

Aber der originale Einfall, dass ein Mensch mit einem Schlag nur noch als Scheintoter weiterlebt, stammt wohl von der lange vergessenen österreichisch- jüdischen Autorin Maria Lazar. Die 1895 geborene Wienerin veröffentlichte schon mit 25 Jahren ihren ersten Roman „Die Vergiftung“, kurz darauf debütierte sie als Dramatikerin, es folgten neben journalistischen Arbeiten und Theaterstücken mehrere weitere Romane, darunter ihr Hauptwerk „Leben verboten!“, das mit dem geschilderten Flugzeugabsturz beginnt und 1934 nur in einer gekürzten Exil-Ausgabe in London erschien.

Maria Lazar ist 1948 in Stockholm gestorben. Als junge Frau wurde sie von Oskar Kokoschka porträtiert, Lazar verkehrte mit Adolf Loos, Elias Canetti und Hermann Broch. Ihren Erstlingsroman las auch Thomas Mann, jedoch ohne Vergnügen, während Robert Musil die „behende Kraft im Figuralen“ gefiel.

In Österreich zum Buch des Monats gekürt

Als Kind war sie mit ihrer Wiener Mitschülerin Helene Weigel befreundet. Und als Bert Brecht mit seiner Frau 1933 vor den Nazis floh, hat Maria Lazar für Weigel und den Brecht-Clan ein Haus der mit ihr befreundeten dänischen Schriftstellerin Karin Michaëlis auf der Insel Thurø besorgt. Trotz solcher Verbindungen ist Maria Lazar nach ihrem Tod aus dem Gedächtnis fast völlig verschwunden.

Nach ihren beiden Romanen „Die Vergiftung“ und „Die Eingeborenen von Maria Blut“ hat der für allerlei Wiederentdeckungen engagierte Wiener Verleger Albert C. Eibl jetzt auch „Leben verboten!“ erstmals in der Originalfassung veröffentlich, auf der Basis einer Kopie des Typoskripts von 1932 (Verlag Das vergessene Buch/DVB, Wien 2020, 383 Seiten, 26 Euro).

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In seinem informativen Nachwort weist der Herausgeber Johann Sonnleitner darauf hin, dass sich Lazars Nachlass in London noch immer im Besitz der Nachkommen befindet und einer weiteren Erforschung harrt.

Gerade ist „Leben verboten!“ in Österreich zum „Buch des Monats“ gewählt und sogar ein kleiner Bestseller geworden. Dabei beginnt der Roman in Berlin. Der Bankier Ernst von Ufermann soll, um sein seit der Weltwirtschaftskrise bedrohtes Unternehmen zu retten, für Geschäftsverhandlungen nach Frankfurt/Main fliegen.

Sittengemälde von Berlin bis Wien

Doch bei einem Zwischenfall am Flughafen Tempelhof werden ihm Ticket und Brieftasche gestohlen. Es ist noch früher Morgen, Ufermann treibt wie benommen durch den „geometrischen Dschungel“ der Großstadt und erfährt erst in der Wohnung einer Gelegenheitsfreundin, was schnell schon die Zeitungsausgaben melden: Er sei unter den bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Opfern eines Flugzeugabsturzes nahe Frankfurt.

So entsteht, mit flackernd schnellen, expressiv filmhaften Schnitten erzählt, eine ziemlich kuriose Geschichte in Berlin, Wien, Prag und Ungarn, durch die Ufermann als sein eigener Doppelgänger zwischen bürgerlicher Gesellschaft, Nutten, Kleingangstern und politischen Fanatikern hintreibt. Derweil seine Frau als vermeintliche Witwe eine enorme Lebensversicherung kassiert und flugs seinen Teilhaber ehelicht.

Das alles ist einerseits: pure Kolportage. Doch Lazar grundiert das individuelle Abdriften ihres Helden durch das farbige (Un-)Sittengemälde einer von Berlin bis Wien 1931/32 bereits vom Vorbeben der kommenden Nazi-Machtergreifung in allen Schichten erschütterten Gesellschaft. Schon hallt das „Juda verrecke“! aus grölenden Kehlen, machen Straßenkämpfe und Intrigen das Leben unsicher.

Es ist, wie es mehrfach heißt, eine „Welt der Kolportage“, so reflektiert die Autorin ihr eigenes Thema in diesem nun endlich wiederentdeckten Roman.

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