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Amerikaner mit britischem Pass und deutschen Studienjahren. Raymond Geuss

© Hilary Garkin/Suhrkamp Verlag

Was gegen den Liberalismus spricht: Die philosophische Autobiografie von Raymond Geuss

Der Philosoph Raymond Geuss erzählt, was es heißt, abseits des liberalen Mainstreams aufgewachsen zu sein

Von Gregor Dotzauer

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Unter den Begriffen, die als bloße Worthülsen durch den politischen Raum geistern, nimmt „Liberalismus“ eine Spitzenstellung ein. Niemand weiß genau, was damit gemeint sein soll, und doch ist es schwer, ohne seine Nennung und das begleitende Vokabular auszukommen. Der Liberalismus ist das geistige Wasser, mit dem moderne westliche Gesellschaften getauft sind. Von daher konkurriert seine nicht zuletzt aus der historischen Vieldeutigkeit geborene Inhaltsleere nur mit seinem Heiligenschein. Wer will schon ohne Not gegen liberale Tugenden vom Leder ziehen? Wer möchte gemeinsame Sache mit Autokraten machen, die Menschen gängeln und Freiheitsrechte abschaffen?

Wenn der Philosoph Raymond Geuss, 1946 im US-Bundesstaat Indiana geboren und zuletzt Professor an der britischen University of Cambridge, von einer „Ideologie des Liberalismus“ spricht, heult er nicht mit den neofaschistischen Wölfen von Alain de Benoist bis zu Alexander Dugin. Er stimmt nicht einmal in den Abgesang eines konservativen Katholiken wie des Politikwissenschaftlers Patrick Deenen ein, der ein ums andere Mal erklärt, „Why Liberalism Failed“. Er tut es als linker Skeptiker, dem alles Totalisierende, worunter für ihn auch Kommunismus oder Katholizismus fallen, zuwider ist. Gerade das antiideologische Auftreten des Liberalismus sieht er als Täuschung, die von den Ungerechtigkeiten seiner kapitalistischen Ausformungen ablenken.

Sein jüngstes Buch „Nicht wie ein Liberaler denken“, ist, ohne ins private Detail zu gehen, eine philosophische Autobiografie. Sie nimmt zahlreiche Motive früherer Schriften auf und bündelt diese in einer ethnografischen Studie, die am Beispiel der eigenen intellektuellen Prägung herauszufinden sucht, wie er zu seinen liberalismuskritischen Überzeugungen gelangte. Geuss legt bei alledem Wert darauf, mindestens so viel zu erzählen wie zu argumentieren. Das ist nicht nur der Gattung geschuldet.

Der objektive „Blick von Nirgendwo“, wie ihn Thomas Nagel einmal als erkenntnistheoretisches Ideal fasste, eine Stufe völliger Abstraktion, die alle Subjektivität hinter sich lässt, erscheint ihm nicht nur unmöglich, sondern geradezu schädlich. Alles Analytische, beharrt Geuss, ist nur in Verbindung mit Geschichte und Ideengeschichte zu haben.
Für ihn waren vor allem die Jahre an einem katholischen Piaristeninternat in Pennsylvania ausschlaggebend. Insbesondere Béla Krigler, ein philosophisch hochgebildeter Pater, der wie mehrere seiner Kollegen 1956 aus Ungarn in die USA geflohen war, erwies sich als herausfordernder Denker.

Gemessen an dem Platz, den Geuss, der Sohn eines Stahlarbeiters, ihm einräumt, war dieser christliche Existenzialist, dem die scholastischen Lehren des Thomas von Aquin fremd blieben, sogar wichtiger als seine späteren philosophischen Lehrer, der pointensprühende Sidney Morgenbesser oder der große Anarchist Robert Paul Wolff.
Das Internat, das ihn übrigens keineswegs zum Gläubigen machte, zeichnete sich für ihn dadurch aus, dass die Ablehnung liberaler Doktrinen nicht mit einem autoritären Gestus verbunden war.

Einen aufgeschlossenen, nicht körper- und lustfeindlichen Katholizismus erlebt zu haben, dürfte ein seltenes Privileg sein. Ihm, so Geuss, verdanke er bis heute die Fähigkeit, zur Allgegenwart des Liberalismus auf Distanz zu gehen. „Der Splitter in deinem Auge ist das beste Vergrößerungsglas“, zitiert er den für ihn höchst einflussreichen Theodor W. Adorno.

Die Einwände, die Geuss formuliert, leben von einem erfahrungsgesättigten Misstrauen in eine umfassende konsensuale Vernunft. Jürgen Habermas‘ Idee des herrschaftsfreien Diskurses hält er für naiv, und John Rawls‘ Gerechtigkeitstheorie für eine Rechtfertigung tiefer struktureller Ungleichheit. In vielerlei Gestalt, klagt er mit dem Rawls-Gegner Robert Wolff, könnte sie „tatsächlich als gerecht verteidigt werden mit der Begründung, dass die am schlechtesten Gestellten ohne sie noch schlechter dran wären.“

Man muss Geuss, der aus einer zutiefst angelsächsischen, brexiterschütterten Perspektive schreibt, nicht in allem folgen. Doch sein übergreifender Punkt ist, dass der Liberalismus gegenüber den dystopischen Entwicklungen unserer Zeit hilflos ist: der Umweltzerstörung, der digitalen Überwachungsgesellschaft oder auch der Ausdehnung verschwörungstheoretischer Zonen. Der Liberalismus, wie Geuss ihn sieht, ist mit einem Wort, das er selbst nicht verwendet, scheißliberal.

Sich dagegen abzusetzen, ist nicht risikolos. Schließlich haben auch illiberale Regime, wenn sie die genannten Entwicklungen nicht sogar vorantreiben, keine besseren Lösungen. Sie wären, wenn sie denn welche hätten, nur besser in der Lage, diese durchzusetzen. Als ein Stück liberaler Selbstaufklärung, auch wenn dies eine Charakterisierung ist, die Raymond Geuss nicht gefallen dürfte, hat dieses bei aller gedankenreichen Dichte allgemeinverständliche Buch Dringlichkeit und Überzeugungskraft. Es spielt nicht einem philosophischen Wolkenkuckucksheim. Es ist, wie der parallel erschienene, gleichfalls von autobiografischen Erinnerungen durchzogene Essay „Über die Arbeit“, ein Text ganz von dieser zusehends entgleitenden Welt.

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