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Porträt von Harald Welzer.

© dpa

Soziologe Harald Welzer im Interview: Weg mit den Privilegien!

Wie wollen wir leben? Der Soziologe Harald Welzer über Selbstdenken, Eigeninitiative und die Notwendigkeit, etwas vom überschießenden Reichtum abzugeben, um globale Gerechtigkeit herzustellen.

Herr Welzer, Sie behaupten, schon als 15-Jähriger alles gewusst zu haben, um politisch aufgeklärt in dieser Gesellschaft zu leben. Wie geht das?
In diesem pubertären Alter hat man ein sehr scharfes Unterscheidungsvermögen für gerecht und ungerecht. In der Gehirnentwicklung gibt es ja drei signifikante Phasen, die erste mit einem Jahr, die zweite nach drei Jahren – die dritte eben in der Pubertät. Das heißt, in der Pubertät sind Menschen intelligenter als später. Was mich betrifft, habe ich die Bemerkung auch ironisch gemeint. Aber dass jahrzehntelange Fütterung mit Theorie wenig hilfreich ist, um politische Urteile zu fällen – davon bin ich überzeugt.

Haben Sie deshalb Ihre wissenschaftliche Karriere beendet und vor zwei Jahren die Stiftung „Futurzwei“ gegründet?
Mich interessiert vor allem die reale Veränderung von Gesellschaft. Verglichen mit mehreren Jahrzehnten akademischer Tätigkeit zuvor, bei der man in dieser Hinsicht keinen Millimeter vorwärtskommt, ist die Gründung von „Futurzwei“ eine tolle Erfahrung. Wir arbeiten in der Stiftung ohne festgelegtes Betriebssystem. Universitäten und Forschungsinstitutionen sind als System dagegen extrem strukturkonservativ, nicht erneuerungsfähig, also auch nicht handlungsfähig.

Bei dem Projekt geht es im Kern um die Erfolgsgeschichten von Leuten, die konkret etwas dafür tun, damit das Leben auf dieser Erde auch in Zukunft möglich ist.
Und das heißt, dass wir nicht mit dem Negativen anfangen. Die mittlerweile 40 Jahre alte Öko-Kommunikation funktioniert ja als Denkmodell so: Eigentlich ist es ganz gut, wie es ist – nur leider gibt es diese Folgen für die Zukunft. So dass jemand aus moralischen Gründen sagt: „So geht die Party nicht weiter, wir müssen das Licht mal anmachen.“ Aber das ist keine Motivation. Deshalb erzählen wir lieber Geschichten über konkrete Veränderungen. Und siehe da – es gibt ganz viele! Und die Leute, die sie praktizieren, sind meistens recht gut gelaunt, weil sie sich als wirksam erfahren. Auf diese Weise wird deutlich, dass Gesellschaftsveränderung Spaß macht. Und dass sie einem nicht mit priesterlichem Gestus auferlegt werden muss.

Deshalb wollen Sie in Ihrem Buch „Selbstdenken. Eine Anleitung zum Widerstand“ auch niemanden anleiten oder belehren; Sie trauen also das Selbstdenken den Menschen zu.
Ja, Menschen können das. Es ist eine unglückselige Entwicklung, dass man meint, für viele Fragestellungen seien Experten nötig. Dabei wird völlig übersehen, dass Menschen im Alltag das meistens selbst viel besser wissen.

Cover zu Harald Welzers neuem Buch.
Selbstdenken. Eine Anleitung zum Widerstand.

© promo

Allerdings haben Sie 2005 eine Untersuchung veröffentlicht, die darüber aufklärt, „wie aus normalen Menschen Massenmörder werden“. Darin zeigt sich, dass Widerstand im Faschismus keineswegs selbstverständlich, sondern eine Leistung war.
Aber er war keine Frage formaler Bildung. Der Widerstand, den Menschen geleistet haben, hatte immer mit einer Haltung zu tun. Wir finden Helfer im kleinkriminellen Milieu genauso wie im gehobenen Bürgertum oder bei polnischen Landarbeiterinnen, die nicht lesen und schreiben können, aber Menschen verstecken und dabei eine unglaubliche situative Intelligenz entwickeln. Dem versuche ich ja auch in „Selbstdenken“ auf die Spur zu kommen: Wie kann man überhaupt so etwas wie eine Haltung der Widerständigkeit entwickeln?

So dass man als Person für die Haltung „Mit mir nicht!“ steht?
Ganz genau, das ist eine Art pragmatische Ethik, die keiner Reflexion bedarf. Sie sagen einfach: „Das mach’ ich nicht.“ Zeitzeugen aus Dänemark würden sagen: „Bei uns macht man das nicht.“ Dänemark war das einzige Land, das alle seine Juden gerettet hat. Warum? Weil man das als Däne macht. Diese völlig selbstverständliche ethische Haltung ist sehr interessant. Bei „Futurzwei“ orientieren wir uns an dem schlichten Motiv: Scheiße machen wir nicht! Das schützt uns vor vielen Verlockungen. Vor Sponsoren oder Kooperationsangeboten, bei denen man sich später doch ärgert, dass man sich auf sie eingelassen hat.

Sie haben mit differenzierten Studien gegen den Klimawandel angeschrieben, aber wenn Sie heute über die komplexe Problemlage öffentlich reden, bieten Sie einen geradezu simplen Ausweg an: Deprivilegieren! Also abgeben, teilen.
Es gibt gar keine andere Möglichkeit, die ökologischen Probleme auf diesem Planeten zu lösen. Denn es handelt sich eigentlich um ein soziales Problem: Wir haben eine Verteilungsfrage von tiefgreifendem Ausmaß, weil der Lebensstil, den wir in den privilegierten Gesellschaften pflegen, überhaupt nicht legitimierbar ist. Man muss von diesem überschießenden Reichtum, der einen als Hyperkonsum und blödsinnige Verschwendung selber schädigt, abgeben, um global gerechtere Verhältnisse herzustellen.

Das ist die klassische soziale Frage ...
... die im Gewand der ökologischen Problematik wiederkehrt. Dass die Ökobewegung und die mit Klimaproblemen befasste Wissenschaft und Politik das Problem nur technisch-naturwissenschaftlich definieren: Das ist eine Katastrophe! Wir brauchen keine Ingenieure, die neue Windräder bauen, sondern die privilegierten Bewohner dieser Erde müssen von ihren Privilegien abgeben.

Das wäre eine Lösung. Doch gibt es auch eine Chance, sie zu verwirklichen?
Warum nicht? Auch Sklavenhalter sind deprivilegiert worden, auch Manchesterkapitalisten.

Sollte die Politik mehr Diktatur wagen? Nach dem Motto: Entweder du zahlst – oder du bleibst hier! Du warst schon zigtausend Flugmeilen unterwegs!
Leider gibt es manifeste Interessen daran, dass genau das möglichst nicht passiert. Sobald die Leute ihre Mobilität einschränken, heißt das weniger Konsum von Mobilitätsanbietern, weniger Autos, weniger Bahnfahrkarten, weniger Flugtickets. Wenn Leute sich anders ernähren, heißt das weniger Umsatz für die Hersteller von Fertigpizza. Wenn Menschen anfangen, mehr zu tauschen und ihre Dinge wieder zu reparieren, sind das Umsatzeinbußen für die Anbieter von Plunder. Insofern herrscht das Interesse, die Verhältnisse zu lassen, wie sie sind, oder sie dynamisch weiterzuentwickeln.

Ebendeshalb wird sich das Deprivilegieren wohl nicht durchsetzen können, die Steigerungs- und Wachstumsinteressen sind stärker.
Das kommt auf die Probe an. Man sollte nur nicht davon ausgehen, dass sich Verhältnisse ohne Konflikte ändern lassen. Wenn wir wirklich einen nachhaltigen Umgang mit Ressourcen pflegen wollen, werden Unternehmen verlieren, deren Geschäftsmodell auf der Zerstörung der Umwelt basiert. Die werden an Privilegien und Profitmöglichkeiten verlieren. Aber das ist immer so gewesen. Privilegien wurden noch nie freiwillig abgegeben, weil die Privilegierten ein wissenschaftliches Papier gelesen oder die Ergebnisse einer Konferenz zur Kenntnis genommen haben – sondern weil sie massiven Widerstand erfahren haben. Ich wehre mich gegen die Entpolitisierung und Schau-Naivität, mit der man heute sagt: Man kann ja nichts machen! Natürlich kann man was machen. Aber es erzeugt Konflikte!

Harald Welzer (56), Soziologe, ist Gründer der Stiftung „Futurzwei“ zur Propagierung alternativer Lebensstile und Wirtschaftsformen. Seine jüngste Publikation „Selbstdenken“ erschien 2013. Das Gespräch führte Angelika Brauer.

Angelika Brauer

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