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Wer hat den Spitzesten?: Zwei Bücher über Bleistifte
Der Bleistift ist ein Eckpfeiler unserer Schreibkultur. Alexander Kluy und Hanns Zischler haben ihm zwei ehrfürchtige Essays gewidmet.
Stand:
Am Ende ist es ausgerechnet „ein Ring Bratwurst von der besten“, für den die Mädchen ein viertes und endgültig letztes Mal zu Onkel Emils Krämerladen zurückgehen müssen. Zuvor waren sie bereits für Hefe, Zucker und Großvater Kampferliniment umgekehrt.
Was so schlimm nun auch wieder nicht war: Immerhin durften Inga und Lisa stets aufs Neue tief ins Bonbonglas greifen. Von der Bratwurst aber hatten sie auf dem Hinweg noch so schön gesungen, um sie eben nicht zu vergessen, sondern sich einzuprägen.
Was wären wir ohne den Bleistift?
„Inga und ich gehen einkaufen“ ist eine der bekanntesten Geschichten aus Astrid Lindgrens „Bullerbü“-Kosmos, die sich bloß entspinnen kann, weil im entscheidenden Moment ein Bleistift fehlt. Da Lisas Mutter keinen findet, kann sie den Mädchen keine Einkaufsliste schreiben.
Denen ist kein Vorwurf zu machen, denn wie löchrig unser Gedächtnis ohne Hilfsmittel arbeitet, weiß jeder aus eigener Supermarkterfahrung. Was wären wir also ohne den Bleistift?
Alexander Kluy hat dazu eine klare Meinung: „Ohne Bleistift – keine Gegenwart! Ohne Bleistift – keine Gründe, um glücklich zu leben!“ Seine Hommage ist in der neuen Buchreihe „Kultur der Dinge“ des Limbus Verlags erschienen. Zeitgleich mit Hanns Zischlers bündigem Essay bei Residenz aus der dortigen Serie „Dinge des Lebens“.
Beide Bändchen zählen keine hundert Seiten und tragen denselben Titel: „Der Bleistift“.
Es sind ehrfürchtige Würdigungen eines unprätentiösen Schreibinstruments, die Kluy und Zischler unabhängig voneinander verfasst haben. Sie berichten von der märchenhaften Wiederentdeckung des Graphits im Norden Englands und der kleinen Medienrevolution, die der Bleistift im 18. Jahrhundert bei Goethe und Konsorten auslöst.
Es folgt der Übergang ins industrielle Zeitalter, wo gut globalisiert die Minen aus sibirischen Gruben importiert werden, das Zedernholz für den Schaft stammt aus Kalifornien.
Kluy geht mehr aufs Business ein, wenn er das Bild von Henry David Thoreaus Heimatstadt Concord als US-Bleistiftmetropole zeichnet oder bloß beeindruckende Zahlen sprechen lässt: „Ende der 1990er-Jahre war das Faber-Castell-Werk in São Carlos, rund 230 Kilometer nordnordwestlich der Megalopole São Paulo gelegen, die größte Bleistift- und Farbstiftfabrik der Welt, jährlicher Ausstoß: 1,5 Milliarden (!) Stifte.“
Der Jesus Christus des Schreibens
Mit extrovertierter Interpunktion geht Kluy in medias res, wo der intellektuelle Tausendsassa Hanns Zischler Distanz walten lässt und die ruhigeren Töne wählt. Was mitunter klingt, als würde Werner Herzog zur Dokumentation aus dem Off sprechen. Zischlers Akzent liegt auf der Bescheidenheit des Schreibgeräts: „‚Schönschrift‘ war eigentlich ein Tintenfach, doch der Bleistift leistete die Vorarbeit.“
Kluy wiederum haut auf die Pauke, als säße er im Debattierklub. Für ihn ist „der Stift mit dem schwarzen Herzen“ nichts weniger als „der Jesus Christus des Schreibens. Er verzeiht jeden Fehler – und gestattet und gibt jeder und jedem eine zweite Chance, eine dritte, eine vierte. Und das spurlos.“ Schließlich gibt’s den Ratzefummel, der darf in seiner Darstellung ebenso wenig fehlen wie bei Zischler tiefsinnige Reflektionen über das Blatt und die Linie.
Zwar ist Zischlers Büchlein um ein Drittel kürzer als das von Kluy, dennoch lässt er in ausgiebiger Montage eine Vielzahl literarischer Granden selbst zu Wort kommen.
Auch die bildende Kunst gerät nicht aus dem Fokus: „Max Beckmann arbeitete wie ein Detektiv“, heißt es über die unterm Kneipentresen gekritzelten Skizzenbücher des Wahl-Berliners. Wer dann immer noch nicht genug hat, darf mit Kluy dreimal raten, welchem Werkzeug wohl Peter Handke entspräche. Kleiner Spoiler: Es ist weder Kamera noch Schreibmaschine.
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