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Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (34): Wlads neue Nachbarin braucht Hilfe

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er, wie er den Krieg in der Ukraine verfolgt.


21. Mai 2022
Als ich noch Alkohol getrunken habe, waren meine Ukraine-Besuche eine besondere Herausforderung , denn sie waren immer relativ kurz im Gegensatz zur Liste der Freunde, die ich sehen wollte. Abends vor den Treffen ging ich in den Supermarkt und kaufte eine Flasche Schnaps. Oft war es Cognac. Und jedes Mal wenn ich eine Flasche aus dem Regal nahm, musste ich an Wlad denken, der mir beigebracht hat, wie man Cognac richtig trinkt.

Es muss 1993 gewesen sein, ich arbeitete bei X-Radio, einem der ersten unabhängigen Sender Charkiws, und war so alt wie mein Sohn heute, also 17. Mein absoluter Traumjob, ich fühlte mich pudelwohl im Kollektiv. Wir teilten uns ein winziges Häuschen, es waren fast nur Musiker, Musikfans und andere Freaks. Und jeden Abend feierten wir. Manchmal nahm ich spontan Freunde mit.

Fehlende Häuser, zerborstene Scheiben, ausgebrannte Autos

Einmal traf ich auf dem Weg zu Arbeit Wlad und lud ihn sofort ein. Wir kannten uns noch aus der Schule. Er war ein paar Jahre älter und ich fand es erstaunlich, wie er sich in den letzten Schuljahren verändert hatte – aus einem vorbildlichen Schüler war ein Hippie geworden – komplett mit langen Haaren, bunten Klamotten, löchrigen Jeans, Ohrring und sogar einer Gitarre, die er zur Schule mitschleppte. Die Lehrer waren schockiert. Ich aber fand Wlad supercool, er war ein Vorbild für mich.

Wlad bestand darauf, eine Flasche bulgarischen Cognac „Die Sonnige Küste“ zu kaufen. Dazu zwei Zitronen. Es stellte sich heraus, dass ich keine Ahnung hatte, wie man Cognac trinkt, das Konzept Genießen war mir damals noch fremd. „Mit kleinen Schlucken! Langsam, du Idiot, das ist doch kein Wodka!“, schrie mich Wlad an und meinte, man muss direkt danach noch eine Zitronenscheibe essen.

Wir haben uns letztes Jahr auf Facebook wiedergefunden. Seit dem 24. Februar schreibt er mir regelmäßig. Er schickt Handyfotos von Charkiw, die aussehen, als ob es von einem komischen Virus beschädigt wurde – auf den ersten Blick ganz normale Straßen, aber schaut man genauer hin, sieht man plötzlich: Hier fehlt ein Haus, bei einem anderen Gebäude sind alle Fenster zerbrochen, davor steht ein komplett ausgebranntes Auto …

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Wlad lebt im Norden von Saltiwka, wo die russischen Angriffe besonders brutal sind. Manchmal ist außer Rauchwolken nichts zu erkennen auf seinen Fotos. Heute erreicht mich seine Nachricht auf dem Weg nach Erftstadt. Ich stehe im überfüllten Kölner Hauptbahnhof, es gibt eine Unwetterwarnung, fast alle Züge haben Verspätung, manche fallen aus.

Draußen regnet es. Verwirrte Passagiere laufen hin und her. Ich versuche, meinen Zug zu finden und Wlad zu antworten. Er schreibt, dass seine neue Nachbarin Hilfe braucht. Im Haus, in dem er wohnt, gibt es mehrere Wohnungen im Untergeschoss, er hat mit den Hauseigentümern ausgemacht, dass dort Menschen aus den Bezirken, die am stärksten beschossen wurden, untergebracht werden können. Nun wollen die Eigentümer die Miete für die letzten drei Monate sowie eine Vorauszahlung.

Mein Zug ist endlich da. Ich rufe Wlad an, aber die Verbindung ist schlecht. In Erftstadt regnet es auch. In meinem Hotelzimmer erreiche ich endlich Wlad. Er erzählt von seiner 20-jährigen Nachbarin Vita, die aus Sewerodonezk nach Charkiw geflohen ist, ihr Haus dort wurde zerbombt, sie ist arbeitslos, weiß nicht, wie sie die Miete und die Vorauszahlung aufbringen soll. Ich frage, ob Vita, Wlad oder sonst jemand von den Nachbarn ein Paypal-Konto hat. Leider nicht, antwortet er. Ich bitte ihn, sofort eins zu eröffnen.

Als der Techniker des Theaters, wo meine Lesung stattfindet, und ich mit dem Beamer und der Leinwand kämpfen, bekomme ich die Nachricht, dass das Konto eingerichtet wurde. Kurz vor Beginn überweise ich 50 Euro und schreibe einen Spendenaufruf. Es hört auf zu regnen. Die Lesung startet. Als ich anderthalb Stunden später fertig bin, stelle ich fest, dass wir den Betrag zusammenhaben. Hurra! Vita kann in der Wohnung bleiben und hoffentlich bald einen Job finden. Wenn das Leben in Charkiw sich normalisiert. Wenn nicht mehr täglich bombardiert wird.

Lesen Sie hier weitere Teile des Tagebuches:

Yuriy Gurzhy

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