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Ein Klassiker der modernen Infografik. In diesem Diagramm bündelte Florence Nightingale 1858, was sie über die Sterbeursachen britischer Soldaten im Krimkrieg herausgefunden hatte.

© Abbildung: R/D

Forschung und gesellschaftlicher Nutzen: Wo ist das große Ganze im Detail?

Die „Enzyklopädie der Genauigkeit“ fragt nach der Anschaulichkeit von Wissenschaft.

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In den quälend langen Monaten der Pandemie haben wir uns an die tägliche Konsultation von Infografiken gewöhnt. Deutschlandkarten etwa, die Infektionsraten, Intensivbettenbelegung, Sterblichkeit und seit Neuestem auch die Impfquote auf einen Blick ins Bild setzen.

„Auf einen Blick“ – diese Formulierung hat eine eigene Kulturgeschichte, die man nun in einer „Enzyklopädie der Genauigkeit“ nachlesen kann. So eröffnet das über 500-seitige Werk mit der Arbeit einer Pionierin der Datenvisualisierung. Die britische Krankenschwester Florence Nightingale hatte Mitte des 19. Jahrhunderts die Sterblichkeit britischer Soldaten im Krimkrieg in einer grafischen Statistik erfasst.

[Markus Krajewski, Antonia von Schöning, Mario Wimmer (Hg.): Enzyklopädie der Genauigkeit. Konstanz University Press, Konstanz 2021. 560 S., 49 €.]

Sie verwandte für ihr Kreisdiagramm drei verschiedenen „Farben des Todes“, Blau, Rot und Schwarz, um zu demonstrieren, dass die meisten Soldaten nicht an Kriegsverletzungen starben, sondern im Lazarett Cholera, Typhus oder Ruhr erlagen.

Nightingale verbesserte die Hygienebedingungen vor Ort und konnte mit ihrem „Diagram of the Causes of Mortality in the Army in the East“ dem Kriegsministerium die bahnbrechenden Erfolge veränderter Hygienepraktiken veranschaulichen. Hier lernt man mit Lisa Cronjäger und Antonia von Schöning gleich, dass es keinen Widerspruch zwischen Akribie und Verallgemeinerung von Wissen geben muss.

Sind Wissenschaftler Pedanten?

Nicht nur in den aktuellen Debatten zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik geht es häufig um den scheinbaren Konflikt zwischen dem mit gesellschaftlichem Mehrwert gesättigten Allgemeinen wissenschaftlicher Arbeit und dem als pedantisch verdächtigten Kleinklein akademischer Forschung.

Der 2006 erschienene Sammelband „Der Hochsitz des Wissens – Das Allgemeine als wissenschaftlicher Wert“ (Diaphanes) hat das schon einmal herausgearbeitet. Wie nun auch die „Enzyklopädie“ in den mannigfaltigen Kulturgeschichten zu Medien, Rhetoriken und Praktiken der Genauigkeit zeigt, ist Wissenschaft ein stetiges Pendeln zwischen Hochsitz und präziser Arbeit im Feld – wenn man bei der problematischen Jagdmetapher bleiben möchte.

Mit großer Geste wendet sich das von Geisteswissenschaftler:innen beforschte Projekt explizit den hard sciences oder sciences exactes, also den Naturwissenschaften, zu. Hervorgegangen ist der Band aus dem vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten interdisziplinären Forschungsprojekt „Medien der Genauigkeit“ (www.genauigkeit.ch) am Departement Künste, Medien, Philosophie der Universität Basel. Der Medienwissenschaftler Markus Krajewski möchte nun der Genauigkeit als „epistemischer Tugend“ in den Geisteswissenschaften in Dialog mit naturwissenschaftlichen Diskursen zu ihrem Recht verhelfen.

Es ist demnach nur konsequent, im letzten Lemma „Zufall in Konserve“ den französischen Überkünstler Marcel Duchamp als Gewährsmann zu positionieren. Die Kunsthistorikerin Aurea Klarskov durchmisst hier die „Fallgeschichte“ zu Duchamps fabelhaftem Werk „3 Stoppages Étalon“ (1913/14) als die eines provokanten Mediums der (Un-)Genauigkeit. Duchamp hat wie kein zweiter an der Aneignung und Brechung von naturwissenschaftlichen Axiomen mitgewirkt.

Ironisierung von Exaktheitsidealen

Seine Auseinandersetzung mit nichteuklidischer Geometrie etwa ist in zahlreiche Arbeiten eingegangen. Wenn Duchamp in den „3 Stoppages Étalon“ drei Fäden aus einem Meter Höhe auf eine frisch getünchte Leinwand fallen lässt und jene dann „als ironische Antwort auf ein Wissenschaftlichkeitsideal“ in andere Medien überträgt, „nagt das nicht nur am Meternormalmaß.“ Duchamp verstand seine Arbeit ausdrücklich als „science amusante“, als fröhliche Wissenschaft.

Gleiches kann man über das gesamte erfrischende Unternehmen sagen. Die „Enzyklopädie“ ist ein lehr- und geistreiches Buch über die (Un-)Genauigkeit, nicht nur als epistemische Tugend, sondern auch als soziale und künstlerische Praxis. Der Ton der Beiträge ist größtenteils gewitzt und klug und bereitet Vergnügen. Es ist gewiss kein Zufall, dass Krajewski im Jahr 2020 schon eine „Universalenzyklopädie der menschlichen Klugheit“ (Kadmos) mitherausgegeben hat. Hier glaubt jemand offensichtlich an die Gattung Enzyklopädie und ist zugleich von dem Wunsch geleitet, sie mit spielerischem Ernst zu erweitern.

Dabei wird im Falle der „Enzyklopädie der Genauigkeit“ kein Geringerer als Denis Diderot sowohl auf dem Titelbild mit seinem Wissensbaum als auch in der Einleitung mit seinen Bemerkungen zur berühmten "Encyclopédie" herbeizitiert. Es zeugt von sympathischem Größenwahn, Forschungsergebnisse in Form einer Enzyklopädie, nicht als Sammelband zu veröffentlichen.

Der Kunsthistoriker Wolfgang Kemp hat in einem lesenswerten „Merkur“-Essay über „Gruppentexte“ vor einigen Jahren einen „Kritischen Blick auf Sammelband und Forschergruppe“ geworfen und entdeckt: „Es ist also, nach so vielen Jahren Sammelband, etwas Neues gefordert.“ Etwas Neues ist eine Enzyklopädie als anmaßende Wissensutopie sicher nicht.. Und doch hat die hier versammelte interdisziplinäre Gruppe von Wissenschaftler:innen etwas Neues gewagt.

Angebote zum Weiterlesen

Über die Projektbeteiligten hinaus hat man für einzelne Beiträge weitere Expert:innen aus den Geschichts-, Kultur-, Literatur- und Medienwissenschaften eingeladen. Das Werk begreift sich explizit als erweiterbar. Allein die Liste an ungewöhnlichen Lemmata macht deutlich, dass man hier ein Angebot erhält und eben nicht bei Bedarf einen gesuchten Begriff nachschlagen kann.

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Jeder Eintrag endet mit einer Empfehlung. Alleine dafür lohnt sich das Blättern. Die Romanistin Anna-Lisa Dieter etwa empfiehlt in ihrem Eintrag zum „Close Reading“ ein Buch der jetzt auch hierzulande wiederentdeckten amerikanischen Öko-Pionierin Rachel Carson, „In The Edge of the Sea“ (1955).

Folgt man einem Link aus der Empfehlung im Lemma „Präzisionismus“ des Kunsthistorikers Elias Wagner, findet man sich unversehens in der 360-Grad Animation einer Ausstellung, die Ed Ruscha 2005 für die Biennale Venedig konzipiert hat, wieder. Diese und viele andere Empfehlungen knüpfen auf schwelgerische Weise intermediale Verbindungen. „Gehen Sie in Ihren Keller, wo sich Ihr Elektrizitätszähler befindet“, wird die Leser:in vom Historiker Jonas Schädler aufgefordert. Warum? Lesen Sie selbst nach, wenn Sie es genau wissen wollen.

Anna Degler

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