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Die kanadische Schriftstellerin Miriam Toews.

© Carol Loewen/Hoffmann & Campe Verlag

"Die Aussprache" von Miriam Toews: Worte für das Unsagbare

Am Leben, aber nicht in dieser Welt: Miriam Toews erzählt in ihrem Roman „Die Aussprache“ vom Missbrauch in einer bolivianischen Mennonitengemeinde.

Vor zehn Jahren wurden in einer entlegenen Mennonitenkolonie in Bolivien, der Manitoba-Kolonie, 150 Kilometer nordöstlich von Santa Cruz, acht Männer verhaftet. Von 2005 bis 2009 hatten sie die Mädchen und Frauen in ihrer Gemeinde systematisch vergewaltigt. Mit einem Betäubungsspray wurden mindestens 130 Opfer sediert und missbraucht. Das jüngste von ihnen war drei Jahre alt. Immer wieder wachten sie benommen auf, mit zerrissenen Nachthemden oder nackt, mit schmutzigen Fingerabdrücken auf den Körpern, mit blauen Flecken und Schmerzen, Blut und Sperma verteilt auf den Laken. Geister seien am Werk, hieß es, oder der Teufel. Also wurden morgens die Betten frisch bezogen und geschwiegen – vier Jahre lang. 2011 verurteilte man die Männer zu 25 Jahren Haft.

Die Schriftstellerin Miriam Toews, Jahrgang 1964, wuchs in Steinbach, Manitoba auf, jener kanadischen Provinz, nach der die bolivianische Kolonie benannt wurde. Ihre Eltern gehörten der „Kleinen Gemeinde“ an, einer Gruppe von Russlandmennoniten, die sich Ende des 19. Jahrhunderts hier niederließ. Die evangelische Freikirche ist ein Ableger der protestantischen Reformation, die in ihrem strenggläubigen Konservatismus und der Ablehnung alles Modernen den Amischen ähnelt. Toews Jugend: ein Trauerspiel aus Prüderie und Sinnfeindlichkeit, zwischen Gottesfurcht und Weltferne. Mit 18 ging Toews nach Montreal, später nach London, studierte Filmwissenschaften und Journalismus. Heute lebt sie in Winnipeg, 50 Autominuten von Steinbach entfernt. „Die Aussprache“ ist der vierte Roman, in dem sie sich mit ihrer Vergangenheit als Mennonitin auseinandersetzt. Und er ist, wie sie schreibt, eine „fiktionale Reaktion“ auf den realen Albtraum aus Bolivien: „Ich musste über diese Frauen schreiben. Ich hätte eine von ihnen sein können.“

Die 250 Seiten zu lesen bereitet schier körperliche Schmerzen

Toews versammelt acht Frauen auf einem Heuboden der Kolonie Molotschna. Ein Ort, an dem nachts die Häuser zu „kleinen Gruften“ werden und die Molotschnerin alles hat, „was man wolle; man müsse sich nur einreden, sehr wenig zu wollen“. Der Missbrauch ist kein Geheimnis mehr. Die Männer sind unterwegs, sie machen Geschäfte, den Frauen bleiben 48 Stunden, um über ihr Schicksal zu beraten. Sie sehen drei Möglichkeiten: Nichts tun. Bleiben und kämpfen. Oder gehen. Und es bereitet schier körperliche Schmerzen, dass die Frauen 250 Seiten brauchen, um zu einem Entschluss zu kommen.

Da gibt es die optimistische Ona, unverheiratet und schwanger von einem ihrer „ungebetenen Besucher“, in der trotz allen Horrors ein elementares Sehnen nach Liebe glimmt. Ja, „Liebe“: Selten liest sich ein Begriff so fremd, wirkt ein Wort so einsam zwischen all den anderen. In Onas jüngerer Schwester dagegen brodelt es. Bei ihren wunderbar rasenden Rachephantasien ist es kein Zufall, dass sie Salome heißt. Mit Greta, Mariche, Meja, Otje, Agata und Nietje, die ihr Leben lang gelernt haben, stumm zu sein, führen die Schwestern einen sokratischen Dialog und exerzieren minutiös, was Vergebung, Schuld, Sünde und Freiheit für sie bedeutet: „Mariche Loewen hebt die Hand. Einer ihrer Finger ist ihr am Gelenk abgebissen worden. Sie sagt, ihrer Meinung nach sei es am wichtigsten, nicht danach zu fragen, ob die Frauen Tiere seien, sondern danach, ob die Frauen das Schlimme, das ihnen angetan wurde, rächen sollten. Oder sollten sie den Männern lieber vergeben, denn nur so würden sie sicher ins Himmelreich eingehen?“ Nur was ist so ein Platz im Himmel wert, wenn man auf Erden sich selbst aufgeben muss? „Was nützt es, am Leben zu sein, wenn man nicht in der Welt ist?“

Toews verliert sich nicht in Betroffenheitskitsch

Leider erlaubt es Miriam Toews der Leserin nicht, sich an dunkle Schreckgespenster zu klammern, sondern quält mit präziser Plastizität. Wenn die Frauen an einem Punkt über den Missbrauch der dreijährigen Miep sprechen, mag man kaum weiterblättern. Aber man muss. Was eine der großen Leistungen der Autorin ist. Sie verliert sich nicht in sentimentalem Betroffenheitskitsch, macht ihren Roman nicht zum weinerlichen Rührstück, zur lethargischen Opferlektüre. Ihre Frauen mögen ungebildet und devot sein. Und dass sie sich mit ihrem Plautdietsch, einer Variante des Ostniederdeutschen aus dem 16. Jahrhundert, der Welt außerhalb Molotschnas nicht mitteilen können, (ja, sie wissen nicht einmal, wo genau auf der Erde sie sich befinden, geschweige denn, dass sie eine Karte von ihr lesen könnten), erscheint wie ein gemeiner Witz. Aber sie sind handlungsfähig. All die Angst, die Unsicherheit, den Zorn durchtränkt Toews dazu mit so viel schwarzem Humor und bissiger Ironie, dass hier manche Passagen zu kleinen Rettungsinseln werden.

Doch es ist nicht nur ihr abgeklärter, nüchterner Ton, der „Die Aussprache“ zu einem besonderen Roman macht. Toews greift zu einem klugen Kunstgriff und schildert den Dialog als Protokoll, geführt von einem Außenstehenden: einem Mann, August Epp, dessen Eltern vor langer Zeit exkommuniziert wurden, der nun aber zurück ist, um die Kinder der Kolonie zu unterrichten. Durch sein leicht verschämtes Unbehagen schafft Toews die so dringend nötige Distanz, die das Erzählte erst erträglich macht. Und auch wenn sich zwischen ihm und Ona zarte Bande andeuten, bleibt August ein eher steriler partner in crime, der die Frauen durch seine kühle Niederschrift aus ihrer Geisterhaftigkeit befreit.

In Kanada landete Toews’ Roman auf Platz 1 der Bestsellerliste

Der drängende Redebedarf in diesem Roman verschränkt sich beim Lesen mit feministischen Debatten, die seit #MeToo immer vehementer geführt werden: Gleichberechtigung von Frauen in der freien Wirtschaft, Selbstbestimmung über den eigenen (weiblichen) Körper im Zusammenhang mit Paragraf 219a, patriarchale Politik im Allgemeinen, Sexismus und Diskriminierung im Besonderen, Macht statt Rosen – ja oder nein?

In Kanada landete Toews’ Roman auf Platz 1 der Bestsellerliste. Er bestätigt den Trend feministischer, literarischer Unheilsszenarien im Stile Margaret Atwoods und ihrem „Report der Magd“. Darin wird die Frau enteignet, um sich dem Mann in einer neuen, theokratischen Diktatur unterzuordnen, mit der einzigen Pflicht Kinder zu gebären.

Toews hat keine ferne Dystopie geschrieben. Sie forciert die Frage nach dem Danach. Es genügt nicht, Straftäter rechtskräftig zu verurteilen. Auch vor dem Hintergrund der Massenvergewaltigung in Indien 2012, der sexuellen Übergriffe in der Kölner Silvesternacht oder dem aktuellen Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche: Dieser Roman lässt sich als Aufforderung an die Gesellschaft lesen, sich zu ihren Defiziten zu verhalten – auf dass sie Lehren und Konsequenzen ziehe und keinesfalls wieder in Schweigen verfalle. „Wenn wir uns befreit haben, werden wir uns fragen müssen, wer wir sind“, konstatiert Ona im Roman. Was für eine schwierige Frage. Was für eine spannende Aufgabe.

Miriam Toews: Die Aussprache.Roman. Aus dem Englischen von Monika Baark. Hoffmann & Campe, Hamburg 2019.256 Seiten, 22 €.

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