
© Yuriy Gurzhy
Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (164): Abschied von Andrea Pancur
Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.
Stand:
19. August 2023
„Wie, Du kennst das Steigerlied nicht?“, erstaunte Andrea Pancur während eines unserer Januar-Telefonate - und sang sofort die ersten Strophen vor. Keine Ahnung, wo sie sich zu diesem Zeitpunkt befand und wie die Menschen um sie herum auf diese spontane Gesangseinlage reagierten. Es war bestimmt eine amüsante Szene - typisch Andrea!
Bei unserer Band Pumpkin Machine war sie nicht nur die Frontfrau, sie fungierte als treibende Kraft des gesamten Projekts. Sie kümmerte sich um alles, koordinierte Proben und Aufnahmen, kommunizierte mit Konzertveranstaltern und steuerte Songideen bei. Nun stand also das Steigerlied auf dem Programm. Als sie den Song neulich hörte, musste sie an den Donbass denken, meinte Andrea zu mir.
Das war kein Wunder - Andrea war ein Fan von Kurkow und Zhadan, wir haben oft mit ihr über die Ukraine gesprochen. Ich hatte das Gefühl, dass der Krieg in meiner Heimat sie ganz nah getroffen hat. Sie engagierte sich intensiv, sammelte Kleidung für Flüchtlinge und organisierte Solidaritätskonzerte in München, wo sie lebte. Mehrmals fragte sie mich um Rat, welche Organisation gerade am besten von ihren Konzertgagen profitieren könnte.
Andrea brachte oft unkonventionelle Crossover-Ideen hervor. Deshalb entschied ich mich im Jahre 2021, sie für mein Buch „Richard Wagner und die Klezmerband“ zu interviewen. Ihr Projekt Alpen Klezmer erschien mir als eines der faszinierendsten Experimente in der deutsch-jüdischen Musikszene. Bayerische und jiddische Lieder miteinander zu verbinden? Bei Andrea klappte das hervorragend!
Bayrische und jiddische Lieder, fusioniert zu Alpen Klezmer
Für Pumpkin Machine rappte ich auf einer Mischung aus Englisch, Deutsch und Ukrainisch und war für Samples und Soundeffekte zuständig. Unsere Albumproduktion dauerte Monate und war fast abgeschlossen. Ich stellte Andrea meinem Kollegen Lesik aus dem ukrainischen Shpytal Studio vor, der unsere Songs mastern sollte. Kürzlich rief er mich an und sagte, er habe von Andrea die falschen Dateien erhalten. Er hatte sie noch am selben Tag kontaktiert, aber keine Antwort erhalten. Ich habe ihr ebenfalls geschrieben, aber auch bei mir meldete sie sich nicht zurück. Vielleicht ist sie im Urlaub und ignoriert deshalb die Anrufe und die Nachrichten?
Heute bin ich mit dem Gedanken erwacht, dass ich im Gegenteil dazu besonders aufmerksam auf Nachrichten und Anrufe achten sollte. Serhij Zhadan und ich hatten die Absicht, Galia Pechenischska, eine Sängerin aus Charkiw, für unser neues Album „SkovoroDance“ zu gewinnen. Zwar musste sie zusammen mit ihrer Tochter im Frühling 2022 nach Deutschland fliehen, aber eine Aufnahme für sie zu organisieren, schien jedoch eine logistische Herausforderung darzustellen.
Schließlich entschieden wir uns für Köln, wo der geschätzte DJ-Kollege Kosta Kostov sich bereit erklärte, Galia heute um 12 aufzunehmen. Ich sicherte den beiden zu, für jegliche Fragen zur Verfügung zu stehen - und reagierte sofort, als eine unbekannte Nummer mich gegen 11 Uhr anrief. Am anderen Ende der Leitung war Birgit aus München, die uns beim letzten Konzert von Pumpkin Machine fotografiert hatte. Die Nachricht, die sie überbrachte, hat mich schockiert: Andrea wurde tot in ihrer Wohnung aufgefunden.
Während ich sprachlos in der Küche saß, traf eine neue Nachricht im Messenger ein. „Schon die News gesehen?!“, schrieb ein Freund aus Kiew und fügte hinzu: „Verdammte Arschlöcher, das ist Dimas Theater!“ Anfangs wusste ich nicht, wovon er sprach. Doch als ich eine Nachrichtenseite öffnete, sah ich schreckliche Bilder aus dem Zentrum von Tschernihiw.
Eine russische Rakete war in das Theater eingeschlagen, in dem Dmytro Kurovskiy, der Bandleader von Foa Hoka, seit Jahren als Orchester-Flötist arbeitete. Es dauerte noch eine Stunde (in der ich Galia noch den Link zum Song schickte und ihr und Kosta eine gute Session wünschte), bis Dmytro sich auf Facebook meldete - er war krank zu Hause und ist heute nicht im Theater gewesen. An Tagen wie diesen wirkt die Welt noch kleiner und zerbrechlicher.
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