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Bandura Soundsystem im Europarat.

© Pascal Bastien

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (82): Wir bringen den Luftalarm von Kiew nach Straßburg

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Von Yuriy Gurzhy

10.11.2022
„Herzlich willkommen, nur für Euch macht der Europarat heute extra früh auf!“, scherzt Pavlo Pushkar. Ich hätte lauter gelacht, aber es ist tatsächlich noch zu früh, 7:32 Uhr, ich bin komplett nass und etwas sauer. Gerade mussten wir in strömendem Regen mit unseren Koffern und Instrumenten um das Gebäude vom Palais de l’Europe herumlaufen, um den offenen Eingang zu finden.

Wir treten heute beim Weltforum für Demokratie als Bandura Soundsystem auf. Katya Tasheva und ich sind gestern aus Berlin angereist, die Musikerkollegen, Sergiy Fomenko und Ivan Moskalenko, kamen aus Kiew. Sergiy ist mit seiner Band seit Wochen auf einer Tour durch Europa, Ivan hat zwei Tage gebraucht, um Straßburg rechtzeitig zu erreichen.

In den letzten Monaten ist das Reisen nach und aus der Ukraine eine wahre Herausforderung. Ivan, besser bekannt als DJ Derbastler, erzählt von seinen Abenteuern – die Ausreisegenehmigung vom Kulturministerium kam spät, allein das Dokument auszudrucken in der Stadt, die jeden Tag für mehrere Stunden stromlos bleibt, ist ein Problem. Aber er hat es geschafft und wir werden ein kurzes, aber wichtiges Konzert spielen – auch wenn wir dafür den Soundcheck um 8 Uhr überstehen müssen!

Gestern Abend trafen wir uns bei mir im Hotelzimmer, um unsere Ansagen zwischen den Songs durchzusprechen. Zum Forum versammeln sich tausende Menschen aus 100 Ländern, für uns ist es eine einmalige Möglichkeit, gehört zu werden. Pavlo, der im Sekretariat des Europarats arbeitet, hilft uns, präzise Formulierungen zu finden. Mir ist es wichtig, uns bei den Europäern für alles, was sie in den letzten Monaten für die Ukraine machen, zu bedanken.

Sergiy, der drei Monate bei der Territorialen Verteidigung war und einiges gesehen hat, was die anderen nur aus dem Netz oder der Zeitung kennen, möchte über seine Erfahrungen sprechen. Ivan spielt uns seine Aufnahme der Kiewer Luftalarmsirene vor, aufgenommen vor wenigen Tagen im Stadtzentrum.

Als wir den ersten Song spielen, weinen einige im Publikum

Im Saal, in dem wir auftreten, finden normalerweise keine Konzerte statt, aber mit Hilfe der Tontechniker kriegen wir annehmbaren Sound hin. Um 12:30 Uhr betreten wir die Bühne, hunderte Menschen schauen zu – wir müssen sofort loslegen, jedoch hat der DJ ein Problem und kann die Playbacks nicht starten. Dafür klappt es mit der Sirene, die wir eigentlich für später eingeplant haben. Ich habe kurz den Eindruck, Ivan hätte die Kontrolle über seine Geräte verloren.

Aber: The show must go on! Wir starten mit einem Lied aus „Ukrainian Songs Of Love & Hate“, bei dem es darum geht, wie es sich anfühlt, das Zuhause zu verlieren, „Losing Our Home“. Ich merke, wie Menschen im Publikum anfangen, zu weinen. Eine heulende Frau verlässt den Raum. Die Sirene hört nicht mehr auf, auch wenn ich eine Ansage mache – allerdings finde ich inzwischen, dass sie irgendwie doch passt – genauso wie sie ja seit Monaten zum Alltag in meiner Heimat gehört.

Als die ersten Akkorde von „Chorna Gora“ erklingen, denke ich an Vassyl Hontarsky, der diesen Song vor vielen Jahren geschrieben hat, und obwohl er bereits 2007 verstarb, ist das Lied mit dem Chorus „Nie, für niemandem werde ich mein Zuhause aufgeben“ aktueller denn je. Eine Frau aus der ersten Reihe zeigt auf ihr Handy.

Ich verstehe nicht, worauf sie hinauswill, Sergiy aber schon – auf ihrem Bildschirm erkennt man die Konturen der Ukraine, das ganze Land ist rot. Sergiy signalisiert ihr, sie sollte es auch den anderen zeigen, und sie kommt auf die Bühne und spricht ins Mikro, mit ihrem Handy in der ausgestreckten Hand. „In der ganzen Ukraine ist gerade Luftalarm!“ sagt sie.

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