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Zhadan I Sobaky in München.

© Yuriy Gurzhy

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (86): Tourbus trifft Transportpanzer

Der ukrainische Autor, DJ, und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Von Yuriy Gurzhy

21. 11. 22
Links Cartier, rechts Dior – ich weiß noch, wie ich vor einem Jahr verwirrt hier stehen blieb, um nach der richtigen Adresse für einen Auftritt zu suchen, nur um festzustellen – die Kammerspiele liegen tatsächlich in einer der edelsten Münchner Prachtstraßen.

Heute ist es wieder die gleiche Bühne, diesmal bin ich hier mit meinen Kolleginnen von „Songs For Babyn Yar“, einem Musiktheaterstück, das sich das sich mit einer der dunkelsten Seiten des Zweiten Weltkrieges auseinandersetzt, dem Massaker in Kiew von 1941. Bevor wir morgen und übermorgen spielen, treffen wir uns heute kurz, um mit der Londoner Regisseurin Josephine Burton unsere Monologe durchzugehen. Wir machen schon um 18 Uhr Schluss, damit alle es zur Veranstaltung von Serhij Zhadan schaffen.

Ja, Serhij ist auch hier, zu Gast beim Münchner Literaturfest, das von Tanja Maljartschuk kuratiert wird, heute Abend liest er in der Muffathalle, danach spielen die Sobaky. Ich bin eingeladen, „Rebe“, einen der Songs, die wir 2016 aufgenommen haben, mitzusingen. Während in der großen Halle noch die Lesung läuft, komme ich im Ampere an, wo nachher das Konzert stattfindet.

Mit Serhij und unserem Projekt „Fokstroty“ hatten wir vor wenigen Wochen einen Auftritt bei der Buchmesse in Frankfurt, aber die Jungs aus der Band habe ich lange nicht gesehen.

In den letzten zehn Jahren haben wir einiges zusammen erlebt – spielten in schäbigen Charkiwer Clubs und rockten eine Riesenbühne am Berliner Alexanderplatz, haben eine gemeinsame Platte gemacht und waren auf einer Tour im Donbass.

Auf sowie hinter der Bühne waren Sobaky schon immer hundertprozentige Rock’n’Roller, im Backstageraum vom Ampere, wo ich sie heute treffe, wirken sie jedoch anders, man hätte fast denken können, sie seien in der fünften Woche einer langen anstrengenden Tour, was aber nicht der Fall ist, das Münchner Konzert ist der Tourauftakt.

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„Auf der Autobahn ein Unfall nach dem anderen“, Alexander, der Sobaky-Posaunist, berichtet mir von ihrer abenteuerlichen Fahrt aus Charkiw nach Polen. „Aber hey, was ist anderes zu erwarten, wenn man keine Winterreifen aufzieht? Anscheinend haben alle gerade andere Sorgen in der Ukraine!“. Einmal fuhr vor ihrem Bus ein Transportpanzer, erzählt er. „Stell Dir vor, so ein Ding auf der verschneiten Autobahn und plötzlich gerät er ins Schleudern und wir fahren direkt daneben – verdammt, das war echt knapp!“

Als ich gerade von den Kammerspielen zum Muffatwerk lief, hat mir die Direktorin des Charkiwer Literaturmuseums Tania Pylypchuk meine Bahntickets geschickt – es steht fest: Anfang Dezember reise ich nach Charkiw.

Die Ukrainer erkennt man sofort, sie schreien jede Textzeile mit

Sobaky kennen und lieben Tania. In den letzten Monaten hatten sie oft miteinander zu tun – bei den Konzerten, die das Literaturmuseum mitveranstaltet hat, beim Spendensammeln, aber auch privat, bei der Evakuierung von Frauen und Kinder der Bandmitglieder hat sie die Jungs unterstützt.

Die Familien von Sobaky haben Charkiw verlassen. Bassist Andrij erinnert sich, wie die russischen Raketen in den ersten Tagen direkt über seinem Haus flogen und sein älterer Sohn fragte, ob sie jetzt sterben. Wenn er das erzählt, glaube ich, werden seine Augen feucht. Auch mir fällt es schwer, die Tränen zurückzuhalten.

Die Lesung in der Halle ist zu Ende, vor Serhij bildet sich eine Schlange und es dauert mindestens anderthalb Stunden, bis alle Bücher unterschrieben und alle Selfies gemacht sind. Das Ampere ist mittlerweile brechend voll, die Band betritt die Bühne, ganz in Schwarz, das Publikum kocht. Die Ukrainer erkennt man sofort, sie schreien jede Textzeile mit. Die meisten Deutschen sind noch nicht so weit, aber die Extase ist ansteckend, der Funke springt schnell über.

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