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Jonathan Walton (rechts) und Yuriy Gurzhy in Lwiw.

© privat

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (90): Begegnungen im ukrainischen Casablanca

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

Stand:

5.12.2022
Mit Lida habe ich Ende 2021 hin und wieder gemailt und telefoniert, um über Skoworodance zu sprechen – ein Projekt zum 300-jährigen Jubiläum des ukrainischen Philosophen Hryhorij Skoworoda, bei dem ich zusammen mit Serhij Zhadan Songs zu seinen Texten schreiben und performen sollte. Ein Jahr später kommen wir endlich dazu – in einer Welt, die sich inzwischen komplett verändert hat. 

Anfang März zog Lida mit der Familie nach Lwiw, ohne ihre Arbeit beim Charkiwer Literaturmuseum aufzugeben. Ich wache in ihrer Wohnung auf und lerne ihre beiden Töchter kennen – eine ist sechs, die andere vier – sie möchten mir unbedingt ein Buchstabenspiel zeigen, während ihre Mutter in der Küche in einem Zoom-Meeting ist.

Eine echte Powerfrau – mitten in der Nacht hat sie mich vom Bahnhof abgeholt, und um zehn Uhr ist sie schon wieder wach und geht mit ihren Kolleginnen die Logistik für die kommenden Veranstaltungen in Charkiw durch – und das an einem Sonntag! Das vom Literaturmuseum zusammen mit Zhadan organisierte Festival „Das fünfte Charkiw“ ist in vollem Gange, täglich finden Lesungen, Diskussionen und Konzerte statt.

Ich habe mich heute mit mehreren Freunden verabredet, es ist erstaunlich, wie viele Leute, die ich kenne, gerade hier sind. Marek, der aus Charkiw kommt und seit März in Krywyj Rih lebt, hat vor drei Tagen seine Berliner Freundin geheiratet. Irgendwie ließ es sich in Lwiw viel schneller als sonstwo organisieren.

Als die beiden auf dem Weg zum Standesamt waren, hat man sie angerufen, um ihren Termin zu stornieren, weil es keinen Strom gab. Sie kamen trotzdem und wurden nach drei Stunden Warten doch noch offiziell Mann und Frau. Seit Tagen feiern sie nun mit Freunden und Familien, mit allen, die zur Zeit in der Nähe von Lwiw leben oder herkommen konnten. 

„Es ist ein verdammtes Casablanca, ich sage es Dir!“, behauptet Marek, und ich habe keinen Grund, ihm nicht zu glauben – schließlich treffe ich mich gleich mit meinem alten Kumpel Jonathan Walton, den ich seit guten zwölf Jahren nicht gesehen habe. Irgendwann hatten wir eine gemeinsame Band, wir nannten uns Shtetl Superstars, sind aber mit unserem einzigen Album keine richtigen Superstars geworden.

Im legendären Club Dzyga jammen die Jazzer

Jonathan gab die Popmusik irgendwann auf, verließ seine Heimatstadt London und zog nach Indien. Heute lebt er in Zagreb und ist Musiktherapeut geworden, in dieser Tätigkeit ist er für eine Woche nach Lwiw gekommen, wo er im Rahmen eines internationalen Projektes mit Kindern arbeitet, die aus dem Osten des Landes mit oder ohne ihre Familien fliehen mussten.

Er hat sich überhaupt nicht verändert, bis auf eine Sache – er spricht Ukrainisch und ist ziemlich gut darin. Wow! Er hat sich in das Land verliebt, meint Jonathan, und hat vor, in den nächsten Monaten unbedingt zurückzukommen. 

Grigory Semenchuk, mit dem ich vor zwei Monaten das Album „Ukrainian Songs Of Love And Hate“ beim Cheltenham Literature Festival in Großbritannien präsentiert habe, ist in Lwiw zu Hause. Heute Abend lädt er uns zur Eröffnung eines Jazzfestivals ein. Bei Jazz Relocation jammen im legendären Club Dzyga in der Virmenska Straße internationale Musiker mit ihren Kollegen aus dem Osten der Ukraine.

Plötzlich sehe ich im Publikum Bogdan – meinen Schulfreund, den Besitzer des Charkiwer Schoolpubs. Wir umarmen uns. „Hey, was machst Du denn hier?“, frage ich und seine Antwort hört sich so cool an wie das Trompetensolo, das gerade von der Bühne erklingt: „Ich bin da, wo Jazz gespielt wird, Alter!“, sagt er mit einem Lächeln, fügt aber auch hinzu, dass er seit Monaten in Lwiw die Lieferungen der humanitären Hilfe aus dem Westen koordiniert.

Alle zusammen bleiben wir noch lange im Dzyga sitzen, dann erinnert mich Grigory daran, dass in einer dreiviertel Stunde die Sperrstunde beginnt und ich schauen sollte, wie lange ich brauche, um meine Gästewohnung zu erreichen. Etwa 30 Minuten, sagt Google Maps – ich verabschiede mich, hoffe aber sehr, sie alle morgen wieder zu sehen, an meinem letzten Tag im ukrainischen Casablanca.

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