
© Yuriy Gurzhy
Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (92): Die Menschen knien auf der Straße nieder
Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.
Stand:
7.12.2022
Mein Freund Lesik Omodada aus Ternopil ist heute auch in Lwiw. Er probt mit Marjan Pyrig, bald haben die beiden einige gemeinsame Auftritte im Ausland, unter anderem in Berlin und in Island. Ich bin zur Probe eingeladen und obwohl ich mir selbst als Musiker nie Fremde im Proberaum wünschen würde, gehe ich trotzdem gern hin – um so mehr, weil es bei mir in der Wohnung wieder keinen Strom gibt.
Ich laufe die Lychakivska Straße runter Richtung Zentrum und erinnere mich an unsere erste Begegnung mit Marjan – man könnte hier fast von einer Tradition sprechen, fällt mir gerade ein, denn 2016 war ich schon mal bei einer (höchst ungewöhnlichen) Probe seiner damaligen Band Hycz Orkestr, wo die Musiker keine einzige Note gespielt haben.
Was ist das für Brummen, was ich immer wieder in der Stadt höre? Das müssen wohl die Generatoren sein – vor jedem zweiten Laden, egal ob ein Supermarkt oder eine Boutique, steht ein kleiner Generator, damit sie auch in den Stunden ohne Strom weiter offen bleiben können. Beim Rynok Platz sehe ich einen Roma-Jungen, der nicht älter als zehn sein wird – mitten auf der Straße singt er ein Medley aus dem Volkslied „Chervona Kalyna“ und dem ESC-Gewinner-Song „Stefania“. Erstaunlich, wie natürlich die zwei Stücke zusammen klingen.
An den Türen des Lwiwer Puppentheaters hängt ein Zettel, der die Richtung zum Luftschutzbunker zeigt, aber wo proben hier Marjan und seine Musiker? Ich rufe Lesik an, der mich wenige Minuten später abholt und in eine Kammer an der Seite des Theaters führt.
Marjan ist ein Exzentriker, ein einzigartiger Musiker, der seine Akustikgitarre mit einem Bogen spielt – und ein großer Liebhaber der ukrainischen Poesie, die er bereits seit vielen Jahren mit verschiedenen Besetzungen vertont. Auch die aktuelle Formation Pyrig i Batig ist da keine Ausnahme. Marjan übt auch die Moderation. Bevor ein Stück gespielt wird, möchte er unbedingt etwas zum Autor sagen, fast jeder von den Dichtern, die er vorstellt, ist in den 1930ern umgekommen – entweder im Gulag oder erschossen.
Im September ging das Video zu Marjans neuem Song „Der Todestango“ viral, den Text dafür, in dem es um die aktuellen Ereignisse geht, hat er ausnahmsweise selbst geschrieben: „Der Tod schärft seine Sense/ Kann aber nicht mit den Streitkräften der Ukraine mithalten!“
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Ich verabschiede mich von Marjan und Lesik , wir werden uns in zwei Wochen bei ihrem Berliner Konzert sehen. Ich sollte meinen Koffer abholen, um 18 Uhr geht mein Zug nach Charkiw. Aber auf dem Weg zurück in die Wohnung denke ich an den Buchladen, den ich bei meinem letzten Lwiw-Besuch in der Pekarska Straße entdeckt habe und entscheide, dort kurz vorbeizuschauen.
Der Karton mit den alten Schallplatten steht immer noch da, wo er schon 2019 war, in der dunklen Ecke bei der Kasse. Heute finde ich da nichts Spannendes, nur das Übliche – Unmengen in der UdSSR der 1970er und 1980er produzierte Scheiben, die heute keiner mehr braucht, unter ihnen gleich fünf Alben von Iosiff Kobson. Als Befürworter der Krim-Annexion und Ehrenkünstler der sogenannten Donezker und Luhansker Volksrepubliken wurde Kobson zum Feind der unabhängigen Ukraine und später auch zum beliebten Kriegsmeme.
Sein Bestseller, das Tangoalbum von 1986, ist auch da und für 20 Hryvnia (50 Cent) zu haben. Darauf singt er alte Tangos, die vor dem Zweiten Weltkrieg geschrieben wurden. Ich versuche mir vorzustellen, wie Kobsons Version des Todestangos von Marjan Pyrig klingen könnte.
Als ich den Laden verlasse, ist draußen etwas los, direkt vor der Tür staut sich der Verkehr. Es sieht so aus, als ob ein Bus nicht durchfahren kann, weil die Straße relativ schmal ist und rechts und links Autos geparkt sind. Der Busfahrer hupt, Polizisten laufen herum, die versuchen, die Besitzer der Autos zu finden, Passanten bleiben stehen und schauen sich das ganze an.
Erst als der Bus endlich weiter fahren darf, stelle ich fest, es ist ein Trauerzug. Mehrere Busse, einer nach dem anderen, fahren langsam die Pekarska runter. Ich sehe, wie Menschen rechts und links von mir sich knien, wie manche von ihnen weinen... Lwiw ist weit weg von der Front, und trotzdem ist der Krieg hier jede verdammte Minute zu spüren.
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