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Ein Bürgerlicher am Rand von Adeligen. James Tissots Gemälde „Le balcon du cercle de la rue Royale en 1867“. Ganz rechts Charles Haas, das reale Vorbild für die Proust-Figur Swann. Foto: Musée d’Orsay Paris/Patrice Schmidt Agence RMNGP/Musée d’art et d’histoire du Judaïsme

© Musée d’Orsay Paris/Patrice Schmidt Agence RMNGP/Musée d’art et d’histoire du Judaïsme

Zu den Marcel-Proust-Schauen in Paris: Auf Seite der Mutter

Wie sind die jüdischen Erfahrungen des Schriftstellers in Malerei und Literatur eingegangen? Ein Essay.

Paris, Sommer 1868. Ein Herr, langer, offener Mantel, hoher Zylinder, legt mit seiner rechten Hand einen Jockeystock auf die Schulter, während die andere an seiner Taille stützt. Fast wirkt es, als wollte er zu einer Rede ansetzen. Doch er schaut nur in eine Ferne außerhalb des Bildes. Dieser Herr heißt Charles Haas, ein Pariser, ehemals jüdischer Bildungsbürger, den James Tissot auf einem Gemälde mit dem Titel „Le Cercle de la rue Royale“ festgehalten hat. Haas steht ganz rechts im Bild, etwas abseits einer Gruppe ähnlicher Herren auf der Schwelle der Terrassentür des „Hôtel de Coislon“ an der Place de la Concorde.

Das Bild Tissots hängt in der Ausstellung „Marcel Proust. Du côté de la mère“, mit der das Pariser Museum für jüdische Kunst und Geschichte im breit bespielten 100. Todesjahr an den französischen Schriftsteller erinnert. Im sechsten von neun Räumen bildet die Szene gleichsam subtil die These der Schau. Sie zeigt ein Treffen einer der wenigen gesellschaftlichen Clubs in Paris, in denen jüdische Mitglieder willkommen waren. Wie die Bildbeschreibung erklärt, war Charles Haas wie Marcel Proust getaufter Jude. Das war auch Charles Swann, den Proust als eine der zentralen jüdischen Figuren der Recherche Haas nachempfunden hat.

Die These der Ausstellung lautet demnach: Hundert Jahre sind seit dem Tod des französischen Autors vergangen und hundert Jahre lang hatte man bei der Rezeption des Werks und der Erforschung der Biografie die jüdischen Aspekte übersehen und sich vor allem auf die katholischen und kunstgeschichtlichen Einflüsse, auf die Kathedralen, Kirchen und biblischen Allegorien konzentriert.

Sie beherrschen bis heute meist das Interesse am Werk, obwohl die jüdische Seite von Prousts Geburt im Jahr 1871 über die Recherche bis zu seinem Tod deutlich zu sehen gewesen wären. Man müsste sie nur sehen wollen.

Es ist nicht zuletzt eine jüdische Umgebung gewesen, in der Proust aufwuchs und vor deren Hintergrund sein Werk entstand. Das vermittelt die vielseitige Schau anhand von knapp 150 Objekten, Briefen, Drucken, Tonaufnahmen und Gemälden französischer Meister. Darunter sind solche, von denen sich Proust für seine Erzählperspektive atmosphärisch inspirieren ließ oder die historische Ereignisse darstellen, die in der Handlung des Romans eine Rolle spielen. Doch auch Édouard Manets Spargelbild „L’ Asperge“ von 1880, das in der „Recherche“ explizit als Kunstwerk beschrieben wird.

Der französische Schriftsteller Marcel Proust, 1871 -1922
Der französische Schriftsteller Marcel Proust, 1871 -1922

© imago/Cola Images

Das Pariser Stadtmuseum Carnavalet hat das Jubiläumsjahr in diesem Frühjahr mit einer Schau zu Prousts Pariser Orten begonnen, und die Nationalbibliothek wird es im Oktober unter der Leitung von Antoine Compagnon zu Prousts Schreibpraxis fortführen. Compagnon ist frisch gebackenes Mitglied der Académie Française. Er hat vor Kurzem das Thema des Jüdischen bei Proust in seiner Studie „Proust du côté juif“ stark gemacht und nun auch die Ausstellung im jüdischen Museum wissenschaftlich begleitet.

Das Besondere an Tissots Szene: Man sieht hier einen getauften und angesehenen Juden in einem der etablierten Pariser Kreise, in denen sich Marquis und Prinzen dem Pferderennen widmen. Für Charles Haas wie für Prousts Figur des ehemals jüdischen Swann scheinen sich die Versprechen der Assimilation, das Versprechen von Gleichheit, Teilhabe und Ansehen, verwirklicht zu haben. Doch auf den zweiten Blick wirkt seine Position doch etwas abseits. Man fragt sich, ob Haas wirklich Teil der Gruppe ist, obwohl auch die anderen kaum miteinander kommunizieren. Doch steht Haas nicht mehr als auf der Schwelle zum Balkon.

Die Gesellschaft beobachtet er mit Distanz

Es ist diese zwar leichte, aber entscheidende Entfernung zur Mehrheit, die sich hier fast unbemerkt ausdrückt und die auch das Besondere in Marcel Prousts Gesellschaftsporträts ausmacht. Mit ähnlicher Distanz beobachtete er die Gesellschaft und vermittelt Eindrücke, die einer vollständig integrierten Person nicht zugänglich sind.

So veranschaulicht die Ausstellung mit Bildern wie dem von Tissot, wie sich Juden in der französischen Gesellschaft im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert behaupten mussten und sich gegen einen Antisemitismus wehrten, der während der Dreyfus-Affäre sein gewaltsamstes Gesicht zeigte. Proust hatte einen katholischen Vater und eine jüdische Mutter.

Mit ihr, Jeanne Weil, beginnt die Schau. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts waren die jüdischen Weils als erfolgreiche Porzellanunternehmer Teil des modernen Bürgertums geworden und hatten sich in jüdischen Institutionen engagiert. Jeanne Weil heiratete 1870 den Hygieniker Adrien Proust, mit dem sie zwei Kinder bekam. Der Zweitgeborene, Robert, folgte dem Weg des Vaters und wurde Arzt.

Das Proust-Porträt von Jacques-Emile Blanche.
Das Proust-Porträt von Jacques-Emile Blanche.

© imago stock&people

Der andere, Marcel, begann schon mit 17 Jahren für verschiedene Zeitschriften zu schreiben. Wie im Museum für jüdische Kunst und Geschichte zu sehen ist, beschäftigte sich Proust nicht erst während der Dreyfus-Affäre mit jüdischen Erfahrungen. Sein Schreiben setzte sich von Beginn an mit einer katholisch und antisemitisch geprägten Gesellschaft auseinander.

Pariser Straßenszenen des großartigen Gustave Caillebotte, die die Gesellschaft aus leichter Entfernung betrachten, mit proustischer Distanz gewissermaßen, finden sich hier genauso wie Meisterwerke von Claude Monet, darunter dessen „Hôtel des Roches Noires“ von 1870. Man sieht hier das damals komfortabelste Hotel Frankreichs in Trouville – schlechthin dem Badeort der Betuchten in der Normandie.

Auch Marcel Proust war hier zu Gast. Orte und Ansichten wie diese standen bei der „Recherche“ Pate. Viele dieser Orte waren jüdisch geprägt. So verbringt der Erzähler im zweiten Romanteil seine Ferien in einem Hotel im fiktiven Balbec, das jenem in Trouville nachempfunden ist. Er findet hier Eingang in einen Kreis jüdischer Intellektueller um Bloch, der neben Swann eine weitere wichtige jüdische Figur der „Recherche“ ist.

Eine weitere Dimension von Prousts Umgang mit jüdischen Themen veranschaulicht eine Szene aus dem Buch „Esther“ des Alten Testaments. Das Gemälde Esther und Ahasverus von Frans Francken II. hing in seinem Elternhaus, und als Proust es nach dem Tod seiner Mutter erbte, suchte er einen Platz im Verborgenen. Nur um dieselbe Szene dann in der „Recherche“ bei einer Theateraufführung von Jean Racines „Esther“ literarisch wieder ins Zentrum zu rücken. Da auch die Kuratorin Isabelle Cahn das Bild in einer kleinen, dunklen Nische platziert hat, wird die Komplexität, die Prousts Verhältnis zum Judentum bestimmte, immer wieder deutlich.

Wie James Tissots Gemälde gezeigt hat, bestimmte Prousts Blick sowie der seiner jüdischen Figuren eine erzwungene gesellschaftliche Distanz zur Mehrheit. Es ist nun sicherlich eine Herausforderung, sich von hier aus zu erschließen, dass gerade diese Außenseiterposition ein frühes Erkennen künstlerischer Neuheiten erlaubte. Die Pariser Ausstellung macht die Verschränkungen von jüdischen Erfahrungen in der Moderne mit Literatur und bildender Kunst anschaulich. So gut wie hier hat man Marcel Proust selten erlebt mit seinen Widersprüchlichkeiten, in seiner Zerrissenheit: zwischen Judentum und Katholizismus, zwischen Ich und Gesellschaft, zwischen seinem Dasein als Salonlöwe, der er durchaus war, und als Autor, der sich zurückgezogen und ausschließlich auf sein Werk konzentrierte.

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