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Kultur: Zurück zur Fraktur

Claus Peymann und die „Spuren der Verirrten“: Peter-Handke-Uraufführung am Berliner Ensemble

Und nachher stehen die beiden Mitte-Ende-Sechziger in der Schauspielerschar, und das ist, wenn man nur ein wenig Theatergeschichte im Kopf hat, schon ein Bild: Peymann herzt Handke, Handke neigt sich zu Peymann, der Applaus ist freundlich, durchsetzt mit ein paar zarten Unmutsäußerungen. Peymann, der Ältere, trägt schwarzen Anzug und sieht mit seinem brutal kurzen Soldatenhaarschnitt aus wie sein Richard III., wie der Schauspieler Gert Voss vor zwanzig Jahren am Wiener Burgtheater, während Handke in Jeans, festem Schuhwerk und elegantem Wollmantel an einen in die Jahre gekommenen, aber gut erhaltenen Rockstar erinnert, Eric Clapton vielleicht. Der Dichter wirkt aufgeräumt, leicht verlegen, der Regisseur setzt sein Raubtierlächeln auf. Man hat noch das Couplet im Ohr, die seltsam unschuldige Melodie, mit der das Sprach-Stück „Spuren der Verirrten“ am Berliner Ensemble verklingt: „Das waren noch Zeiten/Das war die Zeit ...“. Das meinen sie ernst.

Eine längere Dauerbeziehung findet sich im deutschsprachigen Theater nicht, auch kaum eine widersprüchlichere: Seit 1966 („Publikumsbeschimpfung“) bringt Claus Peymann, der Striese der zeitgenössischen Bühne und eigentlich ein Mann fürs Plakative, Grobe, die enigmatisierten Texte des weltfühligen Österreichers Peter Handke auf die Bühne. Vier Jahrzehnte, in denen das Theater, darin der Rockmusik ähnlich, alles erreicht und so viel wieder verspielt hat.

Eine Handke-Uraufführung am Berliner Ensemble des Claus Peymann ist immer noch ein A-Termin, wobei man das am treffendsten mit Antikenabteilung übersetzt. Handke-Postkarten („Lieber Claus ...“), Handke-Manuskripte als Faksimile im schwarz eingeschlagenen Programmheft, das schafft weihevolle Stimmung. Die Orgelpfeifen auf der Bühne von Karl-Ernst Herrmann sind auch als stumme Zeugen dröhnend schwer. „Das war die Zeit.“ So klar sieht man es selten: Das Theater hat an Bedeutung verloren, seit es Bedeutung suggeriert und souffliert, so wie es hier mit jeder Geste, jedem Gang, jedem Wort geschieht.

Und so kommen sie, die BE-Darsteller, wie mit unsichtbaren Bleifüßen beladen bald zwei Stunden lang hereinstolziert, so gehen sie wieder ab, kommen und gehen, diese verschwörerisch dreinblickenden Reinländer und Rausländer, getrieben wovon? Vorn an der gefährlich schrägen Rampe hat der fiktive „Zuschauer“ Platz genommen, der Beobachter in Handkes Prosatext, und diesen poetischen Passiv-Posten deutet Peymanns Regie sogleich plump als eine Art Regisseursfigur, gespielt von Veit Schubert, der aufdringlich mit dem Publikum Kontakt aufnimmt. Peymann illustriert derart gnadenlos, dass schon nach wenigen Minuten das innere Auge des Betrachters im Parkett blind wird.

Wenn Handke, auf Seite 2 seiner 88-seitigen Theatererzählung (erschienen bei Suhrkamp), schreibt: „Zunächst sehe ich zwei, die im Gehen ihren Weg markieren, mit Brotbrocken?“, dann lässt Peymann einen jungen Mann und eine junge Frau auftreten, die, wie Hänsel und Gretel, ihren diagonalen Kurs über die Bühne mit – Brotstückchen auslegen. Fantasie kaputt. Peymann schickt 21 Schauspieler ins Rennen um die verlorene Zeit, eine Menge Volks, ein Getümmel und Getrampel, in dem man sich nach der Einsamkeit der Lektüre sehnt.

Ein chinesisches Sprichwort sagt, man solle seinem Feind wünschen, dass seine Wünsche in Erfüllung gehen. So geht es hier zu: Was Handkes Sätze ansprechen, erträumen, das materialisiert sich in Peymanns Tanztheater ohne jeden Verzug. Kaum gedacht, schon gemacht. Kaum gespürt, schon serviert. „Endlich Handlung? Aktion?“, fragt Handke gegen Ende, und da hat man die ganze Zeit über nichts anderes gesehen, sehen müssen als die handelsüblichen theatralischen Kurzwaren und fahlen Aktionismus.

„Die Welt ist unspielbar geworden“, heißt es bedrohlich in den „Spuren der Verirrten“. Peymann unternimmt große Anstrengungen, diesen Satz zu widerlegen. Paare, Pedanten: Peymann zwingt Handkes Schwebstoffe in ein Kaleidoskop von Alltagsbeobachtungen, und er benutzt dabei eine Art Botho-Strauß-Dramaturgie, freilich ohne dessen ätzende Schärfe. Elisabeth Rath, Ursula Höpfner, Carmen-Maja Antoni: Es sind diese Frauengestalten vor allem, die kein Woher kennen und kein Wohin, denen man vielleicht eine Weile folgen mag, bis die Nächsten, die schon wieder bedeutungsvoll anrücken, den kleinen, schwachen Funken austreten. Axel Werner, eine lustige Person mit Zweispitz, will diesen Verkehr irgendwie regeln; sie überlaufen ihn, wie Lemminge. Aber immer an der Absperrung entlang.

„Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten“ – das war, vor etlichen Jahren, ein – stummer – Handke-Text vom Gehen und Suchen auf einem Marktplatz. Nun haben die „Verirrten“ ihre Stimme wiedergefunden und ihren Zauber verloren, jedenfalls in Peymanns zackiger Regie. So vieles wäre vorstellbar mit diesem doch eher leichtfüßigen Text: ein Monolog, ein Dialog, Projektionen und Visionen. Doch am BE wird das Traumspiel niet- und nagelfest gemacht.

Darf man fragen, was diese Flüchtigen, diese Paare und Einzelkämpfer verwirrt? Von einem Krieg wird geraunt, der ausbrechen soll nach diesem Winter. Was für ein Krieg? Es ist eine dickflüssige Behaglichkeit, ein gepflegter Gram in Handkes „Spuren“, was es letzten Endes schwer macht, den Text gegen die schnöde-hölzerne Inszenierung zu verteidigen. Wer hat den Menschen die Zeit gestohlen, das Zeitgefühl? „Die Tage tagen nicht mehr. Und die Dämmerungen dämmern nicht mehr. Und das Grün grünt nicht mehr.“ Und so weiter. Wo liegt das Land, in dem der „Donner nicht mehr donnert, die Schmerzen nicht mehr schmerzen, die Herzen nicht mehr herzen“. Wenn man sich da einliest, kitscht es fürchterlich. Früher war alles besser: Darauf geht es hinaus.

Und da berühren sich Handke und Strauß, die beiden Weltvermesser, die der Gegenwart nichts abgewinnen können als Überdruss und Eskapismus und den Phantomschmerz der alten Ordnung. Welcher? Das Berliner Ensemble ist das Haus, das einzige am Platz, wo die von Handke beschworene „Spielzeit“ rückwärts läuft, eine kleine Museumsinsel. Hier stemmt sich eine Bühne mit ruhmreichen Protagonisten und gut gefüllter Kriegskasse gegen die Mode, oder was man bei Peymann dafür hält. Theatergeschichte kippt um in Pose und Schattenboxen; auch davon erzählen, wenn man wollte, die „Spuren der Verirrten“.

Einmal wird ein großes, mystisches Buch hochgehalten, aus dem Flammen schlagen und Wasser tropft. Die Szene spricht Bände. Auch die Apokalypse ist nicht mehr das, was sie mal war.

Wieder am 21. und 22. Februar.

Rüdiger Schaper

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