
© The Estate of Lee Lozano. Courtesy Hauser & Wirth
Lee Lozano in der Pinacoteca Agnelli: Der Ausstieg gilt heute als ihr größtes Werk
1972 kehrte sie der Kunstwelt für immer den Rücken. Eine Retrospektive in Turin versammelt radikale, schwarzhumorige Arbeiten der US-Malerin Lee Lozano.
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Wie steigt man aus der New Yorker Kunstszene aus? Geräuschlos oder maximal wütend, wie es Lee Lozano in ihrer in einer Zeitung veröffentlichten Ankündigung „General Strike Piece“ von 1969 begründete? Den eigenen Rückzug verknüpfte die Konzeptkünstlerin mit der ausbleibenden Kunstrevolution. Diese könne nur stattfinden, wenn alle Bereiche des Lebens, inklusive der Museen und Galerien, reformiert würden.
Drei Jahre arbeitete sie noch intensiv in ihrem Loft-Studio in Manhattan, dann verschwand sie endgültig vom Radar. Der Preis der Verweigerung war hoch. In einem Notizbuch schrieb sie damals über ihre Isolation: „KEIN Telefon, Radio, Aufzeichnungen, Lesen, Drogen, Besucher, Post, Fensterblick, Uhr.“
Umso mehr leuchtet ihr Werk jetzt in der Pinacoteca Agnelli, der ehemaligen Fiat-Fabrik. Der Dialog mit der industriellen Umgebung zeichnet die luzide von Sarah Cosulich und Lucrezia Calabrò Visconti kuratierte Retrospektive „Strike“ aus. Die Zeichnungen von Hämmern, Nägeln und Bohrern in Lozanos „Tools“-Serie entwickeln ein anthropomorphes Eigenleben.
Werkzeuge und ihre Beziehung zum Körper tauchen auch in anderen Werkgruppen auf. An vorderster Stelle das Gemälde „No title“ von 1962, das eine behandschuhte Hand dabei zeigt, wie sie eine Münze mit der Inschrift „Liberty“ durch den Münzschlitz eines Frauentorsos schiebt.

© The Estate of Lee Lozano. Courtesy Hauser & Wirth
Das Zitat von Gustave Courbets Skandalakt „Der Ursprung der Welt“ degradiert den weiblichen Unterleib zu einer Sex-Maschine – ein bitterer Kommentar zum Thema Geschlechterverhältnisse, der in einem Raum mit großformatigen Porträts von Messern und Pistolen hängt, aus deren Öffnungen Phalli heraushängen und Brüste, die in Verpackungskartons stecken. Es ist einer von sieben Sälen, in denen man in den ambivalenten Genuss von Lozanos rohen und traditionell männlich konnotierten Stil kommt.
Es steckt jede Menge Auflehnung und schwarzer Humor in diesen kalkulierten Entgleisungen. Sie beginnen bereits ganz am Anfang in den Zeichnungen, als Lozano im Kreis von Minimalisten und Konzeptkünstlern wie Carl Andre, Dan Graham, Robert Morris oder Sol LeWitt verkehrte.
In ihren eigenen minimalistischen Serien großformatiger Ölgemälde wechselte sie später zu geometrischen Formen, die sie mit mathematischer Genauigkeit ausführte. Sie waren alle nach Verben benannt, darunter Spalten, Teilen oder Hacken – Tätigkeiten des Zerstörens von Kontrollsystemen, die sie sowohl in der Kunstwelt als auch in der kapitalistischen Arbeitswelt verortete.
Selbst in Arbeiten, die auf Wortspielen basieren, schwingt immer die Lust am Widerstand gegen das Establishment mit. Pornografische Bilder verbindet Lozano hier mit Werbejargon. In „Ass kisser“ etwa ersetzt sie das Gesicht eines Mannes durch einen nackten Hintern, in dem eine Zigarre steckt. Aber wie wurde Leonore Knaster, so ihr richtiger Name, zu dieser kompromisslosen Außenseiterin?
Sie studierte nach ihrem Philosophie- und naturwissenschaftlichen Studium 1957 am Chicago Art Institute. Vier Jahre später zog sie nach einer Scheidung nach New York. Kaum angekommen, suchte sie die satirische Grenzüberschreitung, auch in den absurden Serien von Flugzeug-Bildern, wieder Maschinen, die sich mit Nasen und Mündern zu Cyborgs paaren.
Inmitten der Politisierung von Kunst war Lozano ein Jahrzehnt am Kunstgeschehen beteiligt. Versagen war also nicht der Grund für ihren Ausstieg. Eher die Neigung zum Extremen, wozu auch die Spekulation an der Börse gehörte, die sie spöttisch zum Kunstprojekt „Investment piece“ deklarierte. Ähnlich wie ihre Weigerung, jemals wieder mit Frauen zu sprechen.
Um anzuprangern, dass diese in der Welt irrelevant und machtlos sind? Heute wird ihr Verschwinden als „ihr größtes Kunstwerk überhaupt“ gefeiert. Lozano ist eine Legende und provoziert nach ihrer Wiederentdeckung in den 1990er Jahren weiterhin wahlweise heroische oder tragische Lesarten. Warum das so ist, lässt sich in Turin auf Eindringlichste studieren.
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