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Wer bringt Ordnung in das ägyptische Chaos? Die nächste Woche ist entscheidend.

© Reuters

Ägypten: Jetzt versuchen alle, ihre Privilegien zu retten

Das Militär, die Mittelschicht, die Islamisten - in der völligen Offenheit der politischen Situation in Ägypten haben alle nur ein Ziel: Ihre Privilegien und ihr Hab und Gut zu sichern.

Diese Woche werden in Ägypten die Weichen gestellt. Gelingt es dem Land irgendwie, einen politischen Weg zu finden – oder wird der Machtkampf endgültig und blutig auf der Straße ausgetragen? Die Vorzeichen sind düster. Mitten in Kairo nahmen am Wochenende bärtige Scharfschützen von einer Moschee aus Passanten ins Visier und richteten ein Blutbad an. Gezielter Mord, ausgerechnet vom Dach eines Gotteshauses, zynischer könnte die Botschaft nicht ausfallen, die Ägyptens Radikale an die Bevölkerung aussandten.

Die Islamisten radikalisieren sich: Scharfschützen schießen von einer Moschee

Das islamistische Lager radikalisiert sich von Tag zu Tag. Es ist gut organisiert, längst auch gefährlich gut bewaffnet und es gibt keinerlei Anzeichen, dass es sich mit dem Machtverlust so einfach abfinden wird. Im Lager der Opposition wiederum, vom Generalstabschef mit harter Hand zu Alliierten des Militärputsches gemacht, sucht drei Tage nach dem Ausrücken der Armee bereits die erste Gruppe nach Vorwänden, um schnell und leise durch die Hintertür zu verschwinden. Am Mittwochabend hatte Militärchef Abdul Fattah al Sissi vor der Kamera noch alle um sich geschart, Politiker und Kleriker, Jugendvertreter und abtrünnige Salafisten, die dann einer nach dem anderen live ans Rednerpult traten und das Eingreifen der Streitkräfte mit patriotischen Formeln rechtfertigten.

Die Mittelschicht in Ägypten ist unpolitisch

Doch viele ahnen inzwischen, dass die Opposition an der Macht wahrscheinlich ebenso wenig zustande bekommt wie zuvor die nun abgesetzte Muslimbruderschaft. Denn die Auflehnung der liberalen Mittelschichten gegen die Vorherrschaft der frommen Herren ist das eine, ihre langjährige Mitverantwortung für die unsagbaren sozialen Zustände das andere. Erst jetzt, wo sie selbst von Stromsperren und Spritmangel betroffen sind, wo die zehrenden Alltagsprobleme der Armen auch bei den Wohlhabenden und Reichen ankommen, finden sich die Betuchten wieder ein in den Reihen der Protestierer. Endlich habe man sich das eigene Land zurückerobert, jubelt die Menge auf dem Tahrir-Platz und winkt enthusiastisch jedem Militärhubschrauber zu.

Doch welches Land meinen sie? Ägyptens Mittelklasse hat praktisch keinen Bürgersinn. Den meisten geht jedes Gefühl dafür ab, was für eine Sklavenhaltergesellschaft seit Jahrzehnten unter ihren Augen existiert. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist ungebildet und bitterarm. Die Schulsysteme verkommen und sind total überlastet, weil viele der Reichen kaum Steuern zahlen und das dem Staat vorenthaltene Geld in private Schulen und Universitäten für den eigenen Nachwuchs stecken. Und genauso wie in ihrem Privatleben verhalten sich Ägyptens Mittelschichten auch im politischen Leben. Ein Gefühl für das Gemeinwohl aller haben sie nicht. Die eigenen Interessen sind alles, was für sie zählt. Hauptsache die eigene Wohnung ist sicher und sauber, was geht mich da der Hausflur oder gar der Müll auf der Straße an?

Das ägyptische Militär ist gleichzeitig König der Wirtschaft

Um die hochgejubelten nationalen Heroen des ägyptischen Militärs steht es nicht viel besser. Die Generäle sorgen sich um ihr Firmenimperium, was bis zu 40 Prozent der Wirtschaftsleistung Ägyptens auf die Waage bringt. Sie sind der größte Landbesitzer weit und breit. Sie produzieren alles, von Trinkwasserflaschen über Kühlschränke bis zu Autos und Flachbildschirmen. Wehrpflichtige beuten sie als billige Arbeitskräfte in ihren Fabriken aus. Auch sie haben deshalb kein Interesse daran, dass sich in ihrer bis ins Mark korrupten Gesellschaft irgendetwas ändert.

Vielen Akteuren geht es vor allem darum, eingeschliffene Privilegien zu retten, ihre Seilschaften zur Ausplünderung des Staates intaktzuhalten und sich bei ihren lukrativen Geschäften nicht ins Handwerk pfuschen zu lassen. Ungeachtet dessen ist die Sorge der liberalen Parteien und der Demokratiebewegung, der moderaten Muslime und der koptischen Christen um ein islamistisches Machtmonopol absolut berechtigt. Ob aber die neue Tahrir-Allianz mit Armee und ehemaligen Mubarak-Günstlingen es besser kann und besser will – das werden die Ägypter in den nächsten Wochen erleben.

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