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Im Wortlaut: Der Fall Kurras, die Linke – und eine anhaltende Deutungsschlacht

Was die anderen zu Karl-Heinz Kurras und dem späten Auftauchen der Akte schreiben. Eine Übersicht.

Wenn sich in der Wochenzeitung „Die Zeit“ zwei Herausgeber, ein Stellvertretender Chefredakteur und eine Reihe anderer geschätzter Kollegen zu demselben Thema zu Wort melden, darf man davon ausgehen, dass es intern ein paar anregende Debatten gab. Es geht um Karl-Heinz Kurras, jenen West-Berliner Polizisten, der am 2. Juni 1967 den Studenten Benno Ohnesorg erschoss, aber auch SED-Mitglied und Mitarbeiter der Stasi war. Im Leitartikel schreibt dazu Bernd Ulrich:

„Jahrzehntelang haben sich die Erben der Studentenbewegung in erbitterten Verteilungskämpfen darum gestritten, wer wie viel Rebellentum, revisionistischen Schwung, Lederjackengeruch, Einschüchterungsrhetorik, Deutungsmacht und Tantiemen aus den wilden Jahren ziehen darf. Heute, da dieser Streit verebbt ist und ein jeder sein Scherflein bekommen hat, ausgerechnet da wird der Mythos insgesamt relativiert. Was für ein Ärger! Was für eine feine Ironie!

Vielleicht hilft das denen im Westen, die Ostdeutschen besser zu verstehen, ihren Kampf darum, sich eine Identität zu sichern gegen die sinnzersetzende Geschichte der Stasi, aber auch gegen Westdeutsche, die ihre eigenen Biografien schon längst in Vitrinen gestellt haben, vor denen sie sich immer wieder gern versammeln.“

Einen ganz anderen Blick auf den 2. Juni hat Josef Joffe. Er schreibt:

„Den Strom der Geschichte wird der Stasiagent Kurras nicht umlenken können. Die ganz große Revision dräut anderswo. In hundert Jahren wird er Fußnote sein, stattdessen werden die Historiker auf eine der allergrößten Umwälzungen überhaupt verweisen: die Pille. Als die Berkeley-Revolte 1964 ausbrach, wurde sie schon von 3,4 Millionen Frauen in den USA benutzt.

Die Folgen waren wirklich revolutionär: der Verfall der Kernfamilie, die Implosion der Geburtenrate, die Eroberung der Universität durch die Frauen, eine Scheidungsrate von 50 Prozent, die unaufhaltsame Machtverschiebung im ewigen Geschlechterkampf, die Überalterung der Gesellschaft.

Das würde Marx eine Revolution nennen, weil sie den gesamten ,Unterbau’ umstürzt und den ,Überbau’ (Kultur, Ideologie) dazu. Der SED-Scherge Kurras wäre ihm bloß eine Charge.“

Michael Naumann wiederum stellt einige Fragen:

„Die Recherche über den Schützen darf weitergehen – was ja nicht bedeutet, dass die Geschichte der 68er umgeschrieben werden müsste. Stimmt es wirklich, dass Kurras nach 1945 jahrelang wegen illegalen Waffenbesitzes in einem Speziallager der Sowjets inhaftiert war? Und wie kam es zu seiner inneren Wende und seinem Beitritt zur SED?

Nicht nur Le-Carré-Lesern bieten sich folgende Forschungsrichtungen an: War Kurras wirklich nur ein Stasispion? Gab es im Berlin jener Jahre nicht den ehrenwerten Beruf des Doppelagenten? Waren seine freundlichen Richter ausnahmslos unbescholtene Nachfolger der NS-Judikatur?

Schon diese Fragen, man ahnt den Vorwurf nur zu gut, sollen angeblich dem alten ideologischen Wahn der Linken verspäteten Vorschub geben, die Bundesrepublik sei ein faschistisches Gebilde gewesen: Sie war es nicht. Aber sie war ein Land, in dem ein Kurras gedeihen konnte, in dem führende SS-Mitglieder den Bundesnachrichtendienst aufbauten – um dann, wie der SS-Obersturmführer Heinz Felfe, als KGB-Agenten oder Stasiagenten enttarnt zu werden.“

Eine Antwort auf die entscheidende Frage nach dem Charakter von Kurras gibt Hans Leyendecker in der „Süddeutschen Zeitung“:

„Bei der Spurensuche nach den Motiven des Todesschützen und Verräters helfen die oft gängigen Etiketten links und rechts nicht viel weiter. Seine Stasi-Akte, seine Prozess-Akten, Gespräche mit Bekannten von Kurras und die Eindrücke dieser Tage deuten auf eine andere Triebfeder bei diesem sturen Charakter hin: Kurras, der im Laufe der Jahre rund 20 000 Mark Spitzellohn erhielt, hat sich der Stasi bedient, weil nur sie seine teuren Schieß-Obsessionen möglich machte. Und sie hat sich seiner bedient, weil er ein im doppelten Wortsinn besessener Jäger und ordentlicher Spitzel war.

Mit seinem Weltbild vom Obrigkeitsstaat hätte Kleinbürger Kurras damals vermutlich ebenso wie Erich Mielke auch jenem Adolf von Thadden dienen können, der 1967 Chef der NPD wurde. Das Grundmuster war in beiden Lagern dasselbe: Es gab Sündenböcke und Feindbilder; die Ideologie war fanatisch oder borniert und die stimmige Welt im Kopf ließ man sich nicht durch den Augenschein verwirren.“

Im „Stern“ schließlich widerspricht Hans-Ulrich Jörges:

„Das ruft nicht nur alle nachfolgenden Toten in Erinnerung, die einer schier unfassbaren historischen Täuschung zum Opfer gefallen sind. Es zwingt auch zur Neubewertung von drei Jahrzehnten deutscher Geschichte, der Geschichte der 68er-Bewegung und ihrer terroristischen Abirrungen. Rechts war links – und links wurde rechts, ein gewaltiges, ein blutiges Verwirrspiel der deutschen Geschichte. Es entwertet, mehr oder weniger existenziell, das Selbstverständnis von Millionen.“

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