Meinung: Der faltige Charme der alten Avus
Pascale Hugues, Le Point
West-Berlin stirbt. Von Kranzler und Möhring ist nicht viel mehr als zarte Nostalgie geblieben. Die Berlinale hat den Zoo-Palast gegen den funktionellen Supermarkt Potsdamer Platz eingetauscht. Die Paris Bar ist insolvent, der Bahnhof Zoo wird zur Endstation für Bummelzüge degradiert. Nur die Wasseruhr und das Europa Center halten sich noch wacker. Und Gott allein weiß, wie lange in den Theatern am Kurfürstendamm noch alte Damen mit mauvefarbenen Dauerwellen in den Pausen Himbeerbowle schlürfen werden.
O Ihr Melancholiker, hört doch auf, euch Sorgen zu machen! Ein Frühstück im Rasthof Avus genügt, um das alte West-Berlin wiederauferstehen zu lassen! Hier hat es die Wiedervereinigung auch nach 15 Jahren noch nicht geschafft, die Ordnung der Dinge durcheinander zu bringen. Fern sind das hippe Friedrichshain und die quirlige Mitte. Wie eine vom Festland abgeschnittene Insel bewahrt der Rasthof ohne alle Komplexe seine zeitlose Identität. Irgendwann zwischen den 50er und den 80er Jahren haben hier die Uhren zu ticken aufgehört. Die Inneneinrichtung sieht aus wie Requisiten aus einem Siebziger-Jahre-Tatort, der in der miefigen westdeutschen Provinz spielt. Namen wie „Bosch“ und „Schultheiss“ flankieren die Betonrotunde wie Zierblumen des Wirtschaftswunders, auf dem Dach prangt der Mercedesstern. Im Rasthof Avus ist WestBerlin noch immer der stolze Schaukasten des bundesrepublikanischen Kapitalismus.
Overalls und Lederblousons, goldene Halsketten und Käppis, Marlboro und Bild-Zeitung, Phil Collins und RTL, der Duft von Scheuermittel und von Duschgel mit Mandarinenaroma, Strammer Max und Toast Hawaii, Malteserkreuz-Aquavit und Nordhäuser Doppelkorn, Toll-Collect-Maschinen und Geldspielautomaten der Marke „Big Risc“ … Welche Rolle spielt es, dass die verwaisten Avus-Tribünen voller Graffiti sind? Welche Rolle spielt es, dass „die schnellste Rennstrecke der Welt“ von Verkehrspolizisten kastriert wurde, die hier Lärmschutzzonen und Tempo 80 verhängten? Im Rasthof Avus ist die Ära der Boliden noch nicht zu Ende. Morgens um neun können sich hier die Fernfahrer, diese bescheidenen Cowboys der europäischen Autobahnen, für Rudolf Caracciola, Manfred von Brauchitsch und Hermann Lang halten, die frühen Helden des goldenen Grand-Prix-Zeitalters.
Mit seinen fünf übereinander getürmten Betonebenen sieht der Rasthof aus wie eine englische Hochzeitstorte. Eine halbe Stunde lang bin ich rotiert wie ein Brummkreisel, um den Eingang zu finden. „Das Avus-Motel liegt verkehrsgünstig!“, verspricht eine Werbebroschüre. In der Tat! Über meinen Filterkaffee gebeugt, studiere ich die blau lackierten Fingernägel der Kellnerin und das Kettchen mit dem Toilettenschlüssel, das ihr aus der Tasche hängt. „Erzähl mir wat!“, befiehlt sie mit fröhlich-mütterlicher Autorität, als sie meine Bestellung aufnehmen will. Der Klomann ist genauso fordernd: „Machen se schnell“, befiehlt er grinsend, „von halb zwölfe bis fünfe mach ick Mittag.“ Wenn der Cerberus nicht an seinem kleinen Tischchen sitzt, über den ein gänsenblümchengemustertes Wachstuch gespannt ist, muss man sich den Schlüssel bei der Kellnerin mit den indigofarbenen Fingernägeln abholen.
„Hier ist die Aussicht am besten!“ Zwei Trucker beobachten die LKW-Karawane, die unter dem Fenster vorbeirauscht. Auf der anderen Seite der Autobahn, an der Außenwand der Messehalle, hängt ein großes, knallbuntes Plakat: „Erlebe den Mythos Griechenland! Mit Dir in der Hauptrolle! Jetzt buchen!“ Eine braun gebrannte Frau, das Gesicht im Schatten eines Sombreros verborgen, küsst einen Mann, der sie umarmt. Ringsherum feiner Sandstrand, im Hintergrund das Parthenon, hoch oben die Sonne. Der Kontrast zum Panorama-Restaurant könnte kaum größer sein: ringsherum schmutziger Schnee, im Hintergrund der Funkturm, hoch oben nichts als grauer Himmel. Und ich verspüre keinerlei Bedürfnis, von dem Apollo mit der Vokuhila-Frisur, der am Tisch neben mir seine Frikadellen verschlingt, in die starken Arme genommen zu werden.
Verdammt, was mache ich bloß hier? Ich will gerade flüchten, als eine Postkarte neben der Kasse meine Aufmerksamkeit erregt: „Schöne Grüße aus Berlin! Berlin, auch Spree-Athen genannt, ist in der ganzen Welt bekannt. Kein and’rer Ort auf dieser Welt verspricht so viel – wie er auch hält.“ Welch Hochmut! Welch entwaffnende Selbstüberschätzung! Plötzlich überkommt mich zärtliche Zuneigung für meine Adoptivstadt mit ihrem leicht ordinären Charme, und für dieses zerbrechliche West-Berlin, das so tapfer und anachronistisch um sein Überleben kämpft.
Aus dem Französischen übersetzt von Jens Mühling.
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