Von Caroline Fetscher: Die armen Kinder
Der Nachwuchs des Prekariats soll mit einer Chipkarte gefördert werden, das ist grotesk!
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Es ist doch ganz einfach. Auch Kinder, deren Eltern wenig verdienen, sollten die Chance haben, bei Schulausflügen dabei zu sein, Nachhilfe in Mathe oder Deutsch zu bekommen, ein Musikinstrument zu spielen, ein warmes Mittagessen zu erhalten, eine Sportart zu betreiben. Man könnte daher die Schulen der Republik, je nach ihrem Anteil an „lehrmittelbefreiten“ Kindern, also die, deren Eltern von Transferleistungen leben, mit Extrabudgets ausstatten. Jede Schule könnte dann nach Bedarf individuell Nachhilfe, Mahlzeiten, Musikstunden, Theaterprojekte und anderes finanzieren.
Doch warum so einfach? Mit der Energie bürokratischer Ingenieure schuf die Politik eine andere Lösung. „Vom Kind her denken“ will man und „niemanden diskriminieren“, und so kam es zur Idee mit der Chipkarte. In Stuttgart ginge das prima, heißt es. Dort hat fast jedes Kind 60 Euro im Jahr auf dem Chipkonto. Damit geht’s ein paarmal ins Schwimmbad, 20 Prozent Ermäßigung gibt es bei Musikschulen oder für „Stadtranderholung“.
Bald also sollen in den Brennpunkten von Berlin, Köln oder Hamburg arme Eltern – oft lethargische, depressive, trinkende, „bildungsferne“, überforderte Eltern oder solche, die kaum die Landessprache sprechen – zu ungewohntem Einsatz animiert werden. In der Praxis sieht das dann so aus: Eine Schule schreibt, etwa an Hartz-IV-Eltern, dass deren dritter Sohn, Steven oder Ahmed, Nachhilfe in Deutsch braucht. Dafür biete das Jobcenter Chipkarten an. Die Eltern lesen den Brief, verstehen ihn, melden sich beim Jobcenter, warten auf dem Flur, kommen dran, zeigen das Schreiben des Lehrers vor. Man händigt ihnen eine Chipkarte aus für zehn Nachhilfestunden à 45 Minuten und eine Liste der „Chipkartensystemzugelassenen Förderlehrer Fach Deutsch in Ihrem Bezirk“. Geduldig wählt der Vater die Nummern durch, bis er einen in der Leitung hat. Er spricht einen Termin mit dem Nachhilfelehrer ab, fährt mit dem Sohn hin, wartet eine Dreiviertelstunde und bringt das Kind nach Hause. Zehn Wochen lang. Dieselben Eltern erfahren dann vielleicht, dass eine ihrer Töchter musikalisch begabt ist, dass der zweite Sohn Nachhilfe in Mathe braucht, der älteste Sohn Basketball trainieren will. Jedesmal machen sich Mutter oder Vater auf den Weg und besorgen neue Chips zum Fördern ihres Nachwuchses.
Schule, Jobcenter und Eltern sollten „kooperieren“, hofft das Ministerium. Das Ministerium deliriert. Wo gibt es in dem Milieu, um das es geht, solche Eltern? Es ist grotesk, es grenzt an Unverschämtheit, derlei Abläufe zu entwerfen. Es gibt eben Familien, in denen ist „Buch“ ebenso ein Fremdwort wie „Klavier“. Weder die Eltern noch die Kinder aus solchen Familien dürfen mit einem Verfahren wie diesem belastet werden. Und auch nicht die Steuerkasse.
Wenn jedes Kind in der Schule eine warme Mahlzeit erhält – ist niemand diskriminiert. Wenn jedes musikalische Kind an seiner Schule ein Instrument erlernen, jedes lernschwache dort Förderstunden erhalten kann – ist niemand diskriminiert. So einfach ist das.
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