zum Hauptinhalt

Meinung: Die Heilige aus der Sandalenabteilung

Pascale Hugues, Le Point

Stand:

In Berlin gibt es unerkannte Heilige, die im Brodeln der Stadt übersehen werden. Ergeben und ohne Murren erfüllen sie ihre Aufgabe. Sie leben mitten unter uns und sind dabei wie durchsichtig. Jeden Tag begegnen wir ihnen, ohne sie auch nur zu bemerken. Eine von ihnen kenne ich, und wie das bei Heiligen häufig der Fall ist, verbringt sie den ganzen Tag auf den Knien. Mit gebeugtem Rücken erhebt sie von Zeit zu Zeit ihre von Barmherzigkeit erfüllten Augen zum Himmel über Berlin. Meine Heilige ist Schuhverkäuferin bei Leiser, gegenüber dem KaDeWe. Sie lebt nahe am Himmel, in der obersten Etage, gleich hinter der Hausschuhabteilung.

Viermal im Jahr suche ich sie auf. Mein Leben als Mutter wird durch vier Jahreszeiten eingeteilt: die Zeit der gefütterten Stiefel, die Sandalenzeit, die Zeit der Stadtschuhe. Und die vierte Jahreszeit ist die der Geburtstage: die Zeit der Fußballschuhe. Viermal im Jahr breche ich mit den Kindern zur Pilgerreise in die Tauentzienstraße auf. Und jedes Mal empfängt uns die heilige Leiser mit dem gleichen gütigen Lächeln. Sie kann wahre Wunder vollbringen: So versteht sie es etwa, auf den ausgestreckten Armen eine Pyramide von Schuhkartons zu balancieren, während eine Horde von entfesselten Kindern und ihre kurz vor dem Nervenzusammenbruch stehenden Mütter um sie herum wirbeln. „Ach, alles eine Frage der Gewohnheit“, seufzt sie, als ich sie zu ihrer Geduld beglückwünsche.

Seit das Schuhhaus Leiser sich zu einem Karussell in der Kinderschuhabteilung entschlossen hat, um seine wilde Kundschaft zu bändigen, wird ein harmloser Sandalenkauf zum Abstieg in die Hölle. Bevor es das Karussell gab, ließen die Kleinen sich wenigstens noch herab, einen Blick auf die Schuhreihen zu werfen. Sie suchten ein Paar Stiefel mit blinkenden Absätzen und klobigen Skinheadsohlen aus. Wir Mütter mussten sie dann davon abbringen. Seit der Ankunft des Karussells feuern die Kinder ihre alten Schuhe auf den Boden und stürzen sich entfesselt in die Löwengrube. Mit roten Gesichtern, verschwitzt und völlig außer sich, zeigen sie die Zähne und fahren die Krallen aus, wenn man sie anfleht, die Schuhe anzuprobieren. Die Mütter schreien, drohen, zerren die Kinder am Ärmel. Die heilige Leiser bleibt unbewegt. Ich bin sicher, dass ich gesehen habe, wie sich an einem Samstagnachmittag im Frühling ein Heiligenschein um ihren Kopf gebildet hat. Nein, Herr Direktor Leiser, das hat Ihre Heilige nicht verdient! Bitte entfernen Sie das Karussell, und, ich beschwöre Sie, stellen Sie am Fahrstuhl einen Automaten mit kostenlosen Beruhigungsmitteln auf!

Auf dem Bürgersteig gegenüber hat der Chef des Giganten KaDeWe das gleiche Martyrium durchlitten wie seine kleine Nachbarin. Patrice Wagner, der junge französische Geschäftsführer, hat seine außergewöhnliche Karriere als Schuhverkäufer bei Breuninger in Stuttgart begonnen. „Die Schuhe“, so sagt er, „sind die schwierigste Abteilung in einem Warenhaus. Man muss sich vor dem Kunden bücken, ihm die Schuhe ausziehen, sie zubinden. Ganz zu schweigen von den Gerüchen und den zerlöcherten Socken. Eine undankbare Arbeit, bei der man Demut lernt. Entweder kriegt man Depressionen, oder man nimmt es sportlich. Ich habe mir Ziele gesetzt: Jeden Tag wollte ich einen neuen Rekord aufstellen. Am Ende des vierten Samstags habe ich mich selbst übertroffen: 64 Paar an einem einzigen Tag verkauft.“

Die heilige Leiser hat nicht die sportliche Ader wie ihr Nachbar, der sich für das Kickboxen begeistert. Sie erträgt ihr Schicksal mit beispielhafter Geduld. Bevor ich Kinder bekommen habe, die viermal im Jahr neue Schuhe brauchen, hatte ich geglaubt, Museumswärter sei der schlimmste Beruf, den es gibt. Stundenlang in stillen Ausstellungsräumen auf und ab zu gehen, in denen niemals etwas geschieht. Aber ich habe meine Meinung geändert: Die Gesellschaft eines schweigenden Rembrandts ist der Gesellschaft Berliner Gören auf einem Karussell bei weitem vorzuziehen.

Aus dem Französischen von Elisabeth Thielicke.

-

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })