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Mon BERLIN: Die Prinzessin von Schöneberg

Jeden Abend, wenn ich zwischen 17 und 19 Uhr nach Hause komme, sehe ich diese Frau am Fensterbrett lehnen. Von ihrer improvisierten Theaterloge aus beobachtet sie das Schauspiel der breiten Straße zu ihren Füßen.

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Jeden Abend, wenn ich zwischen 17 und 19 Uhr nach Hause komme, sehe ich diese Frau am Fensterbrett lehnen. Von ihrer improvisierten Theaterloge aus beobachtet sie das Schauspiel der breiten Straße zu ihren Füßen. Na ja, Schauspiel ist ein sehr großes Wort für das magere Treiben auf der Martin-Luther-Straße zu Büroschluss.

Das ist hier nicht die Nonchalance der mediterranen Passeggiata, wo es vor allem darauf ankommt, sich in den Blicken der anderen zu spiegeln. Und auch nicht das Gedränge auf den von Menschen wimmelnden großen Boulevards in Paris. Vielmehr der unaufhörliche Verkehrsfluss, das Kommen und Gehen vor dem Supermarkt, die Kinder, die aus der Schule kommen, der Nachbar und sein Hund, der Clochard und seine Flasche Korn, die alte Frau und ihr Rollator. Jeden Tag zur gleichen Stunde die gleichen Protagonisten.

Manchmal sorgt ein Lieferant für einen Anflug von Spannung (Action würde man das im modernen Berlinerisch nennen) in dieser wie abgesprochenen und überraschungsfreien Handlung. Sonst nichts. Ein gewöhnlicher Tag nach dem anderen. Aber die Frau ist immer da, sie steht allein an ihrem Fenster. Der Teint immer etwas wächserner. Die Stirn immer etwas sorgenvoller. Untätig. Sie scheint zu warten, auf einen Menschen, auf ein Ereignis. Oder sie schlägt einfach die Zeit tot, die vorüberziehenden Tage. Sie hat die Tüllgardinen zurückgezogen und ein kleines Kissen auf das Fensterbrett gelegt, um es sich gemütlich zu machen. Im Winter lehnt sie ihre Stirn an die beschlagene Scheibe. Ich liebe dieses urbane Motiv zwischen unendlicher Poesie und proletarischem Standbild. Aus dem Fenster schauen...

Ein anachronistischer Zeitvertreib. Eine Szene, die schon bald aus unserer städtischen Landschaft verschwunden sein wird. Wenn man die ganze Welt googeln kann, wenn man sich auf virtuelle Expeditionen ans Ende der Welt begeben und dabei vor seinem Bildschirm sitzen bleiben kann – warum soll man sich dann auf die bescheidene Beobachtung vor der eigenen Türschwelle beschränken?

Das Fenster ist ein Scharnier zwischen der Intimität des Inneren und der grenzenlosen Weite der Außenwelt. Es schenkt uns eine beschützende Distanz. Von ihrem erhöhten Standpunkt aus kann die Frau das Leben betrachten, ohne sich unter die Menge mischen zu müssen. Der Blick schweift in die Ferne. Die Träumerei am Fenster eröffnet alle Möglichkeiten. Alle Freiheiten. Aber wovon träumt meine Nachbarin jeden Abend zwischen 17 und 19 Uhr?

Die Frau am Fenster – ein klassisches Motiv der Malerei, von Caspar David Friedrich bis Matisse, von Vermeer bis Picasso. Und in ungezählten Märchen wartet die bleiche Prinzessin in ihrem Turm auf den Märchenprinzen, der sie von ihrem bösen Schicksal, aus ihrer Gefangenschaft befreit. Ich glaube, dass meine Prinzessin von Schöneberg mit den Pantoffeln an den Füßen und der Kippe im Mund noch lange an ihrem Fenster im zweiten Stock ihres grauen 50er-Jahre-Wohnblocks darauf warten wird, dass ein tapferer Ritter auf seinem weißen Ross erscheint, da unten auf der Martin-Luther-Straße, und sie mitnimmt, weit weit weg.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

Pascale Hugues liest morgen, am Sonntag um 11 Uhr, im Cinema

Paris, Kurfürstendamm 211, aus

ihrem neuen Buch „Ruhige Straße in guter Wohnlage. Die Geschichte meiner Nachbarn“ (Rowohlt Verlag). Tickets bei der Buchhandlung Ferlemann & Schatzer (Telefon : 863 96 067) oder an der Kasse.

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