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Meinung: Europa ist keine Insel

Vor Camerons Rede: Die Briten wollen mehr Distanz zur EU. Das wäre auch gut für den Kontinent

David Cameron wird es mit seiner Europarede am heutigen Freitag niemandem recht machen. Die rabiatesten Euro-Skeptiker in den eigenen Reihen würde der Chef der britischen Konservativen nur durch einen sofortigen EU-Austritt zufriedenstellen; Freunde Europas schütteln den Kopf, dass der Premier ausgerechnet jetzt Staub aufwirbelt, wo sich die Lage in der Euro-Krise zu beruhigen beginnt; Großbritanniens Wirtschaft und seinen ausländischen Investoren ist nichts wichtiger als Zukunftsgewissheit. Am wenigsten wollen sich Politiker in Europa in einen Strudel von Verhandlungen hineinziehen lassen, deren Ende nicht abzusehen ist. Probleme gibt es auch ohne die Briten genug.

Hoffen wir, dass Cameron, wenn er nun mit Forderungen nach einer Rückübertragung von Zuständigkeiten an diesem Status quo rüttelt, wenigstens den rationalen Kern seiner Politik in staatsmännischer Perspektive herausarbeitet. Dieser liegt darin, dass sich die politische Realität Europas durch die EuroKrise verändert hat und die Briten davon tangiert werden. So wie die Krise deutlich gemacht hat, was in der Konstruktion des Euro falsch war, bringt sie bei den Briten hervor, was in ihrem Verhältnis zu Europa verschwiegen wurde. Seitdem sie 1992 im Maastricht-Vertrag die Möglichkeit zum teilweisen Ausscheren durchsetzten, befinden sie sich auf einem Sonderweg. Jetzt ist klar, dass dieser Zustand nicht vorübergehend ist. Über kurz oder lang wird nichts übrig bleiben, als sich auf die Briten einzustellen, und ihr Bedürfnis, sich in diesem Sonderstatus abzusichern, zufriedenzustellen.

Die Wurzel des Problems ist die Konfusion über das, was die Briten von der EU erwartet haben und das, was sie bekommen haben. Sie stimmten 1975 für einen Gemeinsamen Markt, während es den anderen auf den politischen Überbau ankam. Die Wirtschaft war, wie beim Euro, nur der Hebel. An der Dekoration des europäischen Hauses hatten die Briten aber nie Interesse, es kam ihnen auf fairen und freien Handel an. Die Grenze zwischen diesen beiden Auffassungen ist fließend, die „immer engere Union“ ist in den Verträgen nur nebulös beschrieben. Also muss verhandelt werden. Zwingend ist es jedenfalls nicht, dass zum europäischen Binnenmarkt ein ganzer Komplex an Arbeitsmarktregulierung gehört. Die Arbeitszeitdirektive mit Warnungen vor „Sozialdumping“ zu verteidigen, ist bei einer EU-Arbeitslosigkeit von fast elf Prozent absurd. Würde man mit den Briten über ein Ausscheren verhandeln, würde der Binnenmarkt nicht kollabieren.

Camerons Verhandlungskurs birgt auch Chancen. Die Briten wollen nicht nur Extrawürste, sondern Reformen, die ganz Europa braucht, wenn es mit seinen Sozialsystemen im Wettbewerb bestehen will. Die Abschaffung von Strukturfonds für reiche Länder, radikale Reformen des Agrar- und Fischereimarkts, das Ende des parlamentarischen Wanderzirkus zwischen Brüssel und Straßburg – solche Dinge würden die EU billiger, schlanker und flexibler machen.

In Wirklichkeit bangen diejenigen, die sich, vor allem in Brüssel, mit Händen und Füßen gegen britische Nachverhandlungen wehren, um das Prinzip von Europa als einer Einbahnstraße, auf der es keine Umkehr gibt – sogar wenn dies auf Kosten der Wirtschaftsdynamik geht. Dabei könnte ein „Europa à la carte“, vor dem der französische Präsident François Hollande warnt, ein Wachstumsmotor sein – im Übrigen ist dieser Zustand längst Realität, wenn man sich die unterschiedliche Unternehmensbesteuerung und den Teilzusammenschluss der Schengen-Zone anschaut.

Ein Europa mit mehr Toleranz für Asymmetrie wäre nicht nur ein flexibleres, sondern auch ein geliebteres Europa. Das Vorbild ist, ohne Ironie, das Vereinigte Königreich selbst, ein Zusammenschluss von Nationen voller Sonderregelungen. Schottland hat sich in freundschaftlichen Verhandlungen in den vergangenen 20 Jahren eine Flut von Kompetenzen zurückerobert. Nun könnte es in Schottland so gehen, wie es sich Cameron für die britische EU-Mitgliedschaft erhofft. Das schottische Unabhängigkeitsreferendum 2014 dürfte diesen Kompetenzrückfluss absegnen und so dem radikaleren schottischen Sezessionismus für Generationen den Garaus machen.

Auch wenn Europa es anders sieht: In dieser Debatte ist Cameron der Pro-Europäer, der aber, anders als die Labour-Partei, den Kopf nicht in den Sand steckt. Er will nicht nur einen britischen EU-Austritt verhindern, sondern eine 40-jährige Beziehung von Hassliebe, Misstrauen, Widerstand und doch immer wieder auch produktivem Engagement mit der EU auf eine nachhaltigere Grundlage stellen. Damit sich die Briten „wohl in Europa fühlen“.

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