Lesermeinung: Abflug ins Neandertal
Kamen sich zwei Clans aus dem Neandertal bei der Jagd auf dasselbe Mammut ins Gehege, so hatten sie zwei Möglichkeiten: Sie konnten sich zunächst gegenseitig bekämpfen, damit der Sieger das Mammut allein bekäme. Oder sie konnten sich zusammentun und gemeinsam jagen - um den Preis, dass jeder Clan sich nun mit einem halben Mammut begnügen müssen würde.
Stand:
Kamen sich zwei Clans aus dem Neandertal bei der Jagd auf dasselbe Mammut ins Gehege, so hatten sie zwei Möglichkeiten: Sie konnten sich zunächst gegenseitig bekämpfen, damit der Sieger das Mammut allein bekäme. Oder sie konnten sich zusammentun und gemeinsam jagen - um den Preis, dass jeder Clan sich nun mit einem halben Mammut begnügen müssen würde. Nun: Sie bekämpften sich gegenseitig, die Ober-Neandertaler besiegten die Unter-Neandertaler; doch das Mammut lief unterdessen weg – und so starben schließlich alle Neandertaler aus.
An diese Situation fühlt sich erinnert, wer die triumphierende Schlagzeile liest: „Berlins Süden wird nicht mehr überflogen“ (PNN vom 30.10.2010). Innerhalb kürzester Zeit haben es einige Bürgerinitiativen im südwestlichen Berlin und Umland verstanden, die Bedrohung ihrer Wohngebiete durch den Fluglärm des künftigen BBI entlang „neuer“ Flugrouten vom Tisch zu bekommen. Sie akzeptierten den BBI am Standort Schönefeld mit den „alten“ Flugrouten, verzichteten trotz guter Erfolgsaussichten auf die Möglichkeit, den Planfeststellungsbeschluss durch eine nachträgliche Betroffenheitsklage anzufechten, und akzeptierten insofern ausdrücklich, dass andere Menschen genau den Fluglärm aushalten sollen, dem sie selbst sich nicht aussetzen wollen. Dies betrifft Hunderttausende, die sich bisher mit über 130 000 Einwendungen im Anhörungsverfahren, mit über 4000 Klagen vor dem Bundesverwaltungsgericht und sogar mit einigen Verfassungsbeschwerden erfolglos gegen die Fluglärmbelastung zur Wehr setzten.
Dieses Verhalten ist seit dem Neandertal weit verbreitet, aber es löst ein Problem definitiv nicht: Den Flughafen BBI am Standort Schönefeld zu errichten war und ist eine gigantische Fehlentscheidung ohne Zukunftsperspektive. Im Inneren des Berliner Autobahnringes gelegen wird BBI in dem Maße, in dem Berlin mit dem Speckgürtel des Umlandes verwächst, bald schon genau so ein innerstädtischer Flughafen sein wie der Flughafen Tegel es jetzt ist. Mit seinem gewaltigen Lärmriegel von Ludwigsfelde im Westen bis Erkner im Osten zerschneidet er den Berliner Siedlungsraum geradewegs durch die Mitte – und die wertvollsten Siedlungs- und Erholungsgebiete, die zu den Perlen der Berliner Gegend zählen, werden unwiederbringlich auf immer geschädigt.
Zu reden ist erst recht von den Menschen: Die Zahl der von Fluglärm Betroffenen wird – das zeigen die aktuellen Diskussionen – wesentlich höher sein, als von den Planern bisher zugegeben wurde und möglicherweise fast eine halbe Million erreichen, wenn alle Flugbewegungen – also z.B. auch Warteschleifen - berücksichtigt werden.
Die überzeugenden Argumente, die von den Bürgerinitiativen im Berliner Südwesten mit Recht gegen den Fluglärm vorgebracht werden, haben nahezu ausnahmslos in allen betroffenen Gebieten Gültigkeit.
Es ist ein Irrglaube anzunehmen, durch die jetzt angekündigte Neuplanung der Flugrouten könnten sich die Einwohner von Wannsee, Potsdam und anderen Wohlstandsquartieren dauerhaft vor Fluglärm schützen. Alle Erfahrungen mit existierenden Flughäfen beweisen, dass diese, einmal vorhanden, durch ihren fortwährenden Expansionsdrang unvermeidlich zum Quell fortwährender Ärgernisse werden. Sie sind die „Hardware“, in physischer Form errichtete Fakten. Sie streben nach Wachstum, zumeist in Form weiterer Start- und Landebahnen und sonstiger Erweiterungen, die ihrerseits noch mehr Lärm bedeuten. Für einen Flughafen ist all das ökonomisch geboten und daher völlig normal. Auch für den BBI befindet sich schon eine dritte Startbahn in der Vorratsplanung. Flugrouten, Nachtflugregelungen, Festlegungen über die Anzahl zulässiger Starts und Landungen, zugelassene Flugzeugtypen dagegen sind „Software“, das heißt Regelungen auf geduldigem Papier, die jederzeit nach Bedarf geändert werden können.
Die jetzige Ankündigung von Bundesverkehrsminister Ramsauer, zur bisherigen geradlinigen Führung der Flugrouten zurückkehren zu wollen, mag geeignet sein, die Bürgerinitiativen des Berliner Südwestens vorerst ruhigzustellen. In der Sache wird damit jedoch nichts anderes vollzogen als eine vorgreifende Kapazitätsbeschränkung für den BBI. Der Parallelbetrieb auf zwei Startbahnen wird verhindert. Es ist also eine Frage höchstens weniger Jahre, bis der BBI ernsthaft an die dadurch auferlegten Kapazitätsgrenzen stoßen wird. Weil der Bau einer dritten Startbahn das Problem mangels Parallelbetriebes auch nicht lösen wird, wird es spätestens dann nur zwei Möglichkeiten geben: Die Einschränkungen des Parallelbetriebes aufzugeben und mithin auch Potsdam, Wannsee, Zehlendorf usw. zu überfliegen – oder endlich anderorts einen ganz neuen Flughafen zu bauen. Was ist besser?
Ein ganz neuer Flughafen andernorts: Damit ließen sich alle Probleme lösen, und zwar schon jetzt. Besser geeignete Standorte im Umkreis einer Viertelstunde Fahrt sind bekannt.
A proposNeandertal: Die Strategien der Steinzeit taugen nicht mehr für das 21. Jahrhundert. Deswegen sollten alle, denen die Zukunft der Region am Herzen liegt, insbesondere alle Bürgerinitiativen, zusammenarbeiten, um das unsinnige Projekt BBI Schönefeld möglichst kostengünstig zu beenden und stattdessen eine Lösung mit echter Zukunftsperspektive zu realisieren, die alle Bewohner der Region besser stellt.
Auch die Politik muss die Fähigkeit entwickeln, Fehlentscheidungen zu korrigieren – insbesondere dann, wenn sie die Interessen Hunderttausender berühren. Gefragt sind Politiker, die sich ihr Urteilsvermögen und ihre Unabhängigkeit bewahrt haben und die zu einer sachlichen Auseinandersetzung fähig sind. Es mag 5 vor 12 sein, aber es ist noch nicht zu spät.
Hans M. Dietz, Schulzendorf
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