Lesermeinung: Bundestrainer als „Übervater“
„Klinsi bleib!“Die erfolgreiche WM lässt „einen Ruck durch Deutschland gehen“, wird behauptet.
Stand:
„Klinsi bleib!“
Die erfolgreiche WM lässt „einen Ruck durch Deutschland gehen“, wird behauptet. Was ist passiert und was fehlte uns so sehr, dass junge Leute bittend und bettelnd in die Kameras flehen: „Klinsi bleib!“? Meinen all´ diese Menschen tatsächlich nur den Fußball?
Es ist etwas anderes. Seit der großen Schuld, die der Naziterror über dieses Land brachte, wagte niemand die Fahne „nur so“ zu zeigen. Im Namen dieser Fahne wurde gemordet. Zu einem Volk zu gehören, das unvorstellbares Leid über die Welt brachte, ist schlimm. Es braucht Generationen, um damit fertig zu werden. Geht gebeugt, büßt für das, was war bis in alle Ewigkeit – dieses Grundgefühl wurde in den Jahrzehnten nach dem Krieg in den Schulen vermittelt. Zu Recht, denn nie zuvor hat ein Volk etwas ähnlich Grauenvolles bis zur Perfektion entwickelt und durchgeführt. Egal, welche Beispiele an Schandtaten anderer Völker man heranzieht. Das Nazigrauen ist beipiellos. Mit dieser Schuld laufen wir herum. Jetzt kommt eine Art „Übervater“ wie Klinsmann. Er tröstet seine Spieler, er steht ihnen bei, er ermutigt sie, er vertraut ihnen, er lacht mit ihnen, spornt sie an, er steht zu ihnen. Er ermutigt auch uns, neue Pfade zu betreten, zu lachen. Freude ist erlaubt, selbst, wenn die Fahnen flattern, die wir alle unser gesamtes Leben lang historisch nur blutbesudelt kannten und deshalb ablehnten, ablehnen mussten. Es scheint, als ob er uns lehrt, uns wieder zu lieben, das Land zu lieben, das nun endlich vielleicht wieder das Land der Dichter und Denker sein darf. Noch trauen wir dem Frieden nicht so ganz, aber Klinsi sagt , dass wir an uns glauben sollen. Wir dürfen! Wir sollen und müssen sogar! Millionen jubeln und es scheint ein bisschen so, als ob sie jubeln über das befreiende Gefühl, die nationale Identität wiedergefunden zu haben. Klinsmann soll bleiben und uns befreien von der Schuld. Die Welt soll sehen, dass hier auch nur Menschen wohnen und keine Mörder. Wir wollen wieder dazu gehören, nicht nur wirtschaftlich, auch menschlich und mit einer Fahne.
Danke Jürgen Klinsmann
Silvia Friedrich, per E-Mail
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