Lesermeinung: Der Fantasie Flügel verleihen
Zu: „Soll das Brandenburger Tor Flügel bekommen?“, 29.
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Zu: „Soll das Brandenburger Tor Flügel bekommen?“, 29.9. Es wird manchem ähnlich gehen: Man versucht, sich mit dem vorgelegten Entwurf zu befreunden. Aber die rechte Freude kommt nicht auf. Dabei ist der Wunsch, einen mehr geschlossenen Raum vor dem Tor zu schaffen, verständlich. Gontard und Unger, die Architekten des Tores, würden vielleicht Säulenkolonnaden aufstellen, wie sie es so manches Mal getan haben. Die Säulen sind, wie das Tor selber, ein Rückgriff auf die Antike. Aber damit hatten weder sie noch ihre Zeitgenossen Schwierigkeiten. Wir sind da wesentlich prüder. Warum eigentlich? Säulenkolonnaden, altmodische oder auch „moderne“ haben in jedem Fall den Vorteil, dass sie einen Raum abschließen und doch nach außen transparent wirken. Zu Contard und Ungers Zeiten gab der König das Geld, wenn er seine Stadt verschönern wollte. Wir sind heute auf Sponsoren und Investoren angewiesen. Mit Investoren wird die Sache schwierig. Der Gedanke, in den Flügeln neue Kaffees aufzumachen, ist für die anliegenden gastronomischen Einrichtungen bedrohlich. Denn an Kaffees mangelt es gerade in diesem Raum nicht. Für Sponsoren hingegen müsste der Entwurf so hinreißend sein, dass die Brieftaschen von allein aufgehen. Verleiht man erst einmal der Fantasie Flügel, dann wird sicher so manche gute Idee geboren, sicher besser als die Idee, die mir gekommen ist: Das Brandenburger Tor ist dem damaligen Geschmack entsprechend reichlich kriegerisch geschmückt. Die Seitenflügel könnten ein Gegenentwurf werden. Zum Beispiel im Hinblick auf den vorletzten Namen des Platzes als „Platz der Nationen“. Da könnte man die Staaten Europas als „Sponsoren“ bitten, je eine Säule zu stiften, die sie selber gestalten. Man könnte vielleicht sogar bitten, dass jede Säule eine kleine Glocke trägt, die dann aufeinander abgestimmt sind. Denn der Sprung von einem Europa, das sich ständig Kämpfe lieferte - Friedrich II., der den Auftrag zu diesem Torbau gab, kämpfte mit halb Europa - zum heutigen Europa ist ein Geschenk, das wir uns immer wieder verdeutlichen sollten. Dieses sichtbar zu dokumentieren, an dieser zentralen Stelle, macht Sinn. Das Brandenburger Tor hat viele Generationen hindurch einsam gestanden. Und so könnte es auch bleiben. Aber der vorgelegte Entwurf hat die Gehirngänge in Bewegung gesetzt. Wie wäre es, man würde die Potsdamer Architekten um Ideen bitten? Sie sind mit der Stadt mehr verbunden als ein Auswärtiger. Dass auf dem dürren märkischen Sand manch fähiger Architekt aufgewachsen ist, ist zur Genüge bekannt. Wilhelm Stintzing, Potsdam
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