Lesermeinung: Erinnerung
Durch die Potsdamer Mitte, durch Berge von Schutt und ScherbenSeit früher Kindheit ist mir Potsdam vertraut. Meine Eltern stammten aus der Stadt und alle Großeltern wohnten dort.
Stand:
Durch die Potsdamer Mitte, durch Berge von Schutt und Scherben
Seit früher Kindheit ist mir Potsdam vertraut. Meine Eltern stammten aus der Stadt und alle Großeltern wohnten dort. Wir hielten uns sehr häufig in Potsdam auf. Es gab lange Spaziergänge und mein Vater erzählte viel über Geschichte und machte uns auf kulturhistorisch wichtige Bauten aufmerksam. Als wir in der Nacht des Angriffs aus dem Keller kamen, stand der übliche Feuerschein in ungewohnter Richtung. Es war klar, dass es sich um Potsdam handeln musste. Der S-Bahn-Betrieb war unterbrochen und so beschlossen wir, gleich morgens mit den Rädern dorthin zu fahren, um festzustellen, ob die Großmutter noch am Leben war. Wir kamen über die Glienicker Brücke in die Stadt und wählten den Weg über Burgstraße, Alter Markt, Breite Straße in die Brandenburger Vorstadt, wo die Großmutter wohnte.
Die Bilder haben sich in mein Gedächtnis gegraben, als hätte ich sie erst kürzlich erblickt. Bald konnten wir die Fahrräder nur noch tragen und stolperten kreuz und quer über Berge von Schutt und Scherben. An manchen Stellen gab es noch kleinere Brände und die Luft war erfüllt von Staub und beißendem Geruch. Der Großmutter war nichts passiert – nur ihre Fensterscheiben wurden durch den Luftdruck zerstört. Ich glaube, kaum ein Potsdamer hat an diesem Tag die Stadt zweimal durchquert - es sei denn, er hat auch jemanden gesucht. Man hatte nach einem Luftangriff andere Sorgen: Graben nach Verschütteten und Toten, Jagd nach Pappe als Ersatz für Fensterglas oder Dachpappe und Holzreste zum Verschließen größerer Löcher im Dach.
Seit 1950 wohne ich in Potsdam und musste mit ansehen, wie der gesamte Grundriss der Altstadt missachtet wurde, wie Schloss und andere prägende Gebäude endgültig zerstört wurden. Wie oft musste ich Touristen, die nach dem Stadtzentrum fragten, sagen, dass es keines mehr gibt. Wir haben sehr viel verloren - es ist wohl die letzte Gelegenheit, einen wichtigen Anteil davon zurückzuholen. Es wäre mit Sicherheit ein großer Gewinn für unsere Stadt!
Renate Kroitzsch, Potsdam
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: