Lesermeinung: Kostroma, eine russische „Großstadt“ im Jahr 1916
Zu: „Kontakte nach Kostroma“, 31.1.
Stand:
Zu: „Kontakte nach Kostroma“, 31.1.
Dieser Artikel erinnert mich an eine Niederschrift meiner Mutter, die 1916 bei einer Wolgafahrt auch an diesen Ort kam. Das ist nun 90 Jahre her. Ich lege eine Kopie bei:
„ An einem heißen Julimorgen fuhr ich die Wolga aufwärts nach der Gouvernementstadt Kostroma. Sommer und Wolga! Das heißt: Leben! Viele Holzflöße, die den russischen Holzreichtum in die Häfen bringen, Frachtkähne – „Plaschkotts“ genannt –, die den Strom durchziehen und dann die Dampfer. Welch ein buntes Bild. Jede Schifffahrtsgesellschaft streicht ihre Dampfer mit einer eigenen Farbe. Unser Dampfer war nicht so gut wie bei meiner ersten Wolgafahrt im Herbst, es war alles sozusagen „zweiter Güte“. Die Kabinen einfacher, die Aufenthaltsräume dürftig. Sogar Unsauberkeit machte sich bemerkbar.
Hielt man sich jedoch auf dem Promenadendeck auf und ließ den Blick über den weiten Strom mit seinen grünen Ufern schweifen, so waren alle Übel vergessen. Auch das Reisepublikum ist im Sommer ein anderes: Während es im Frühjahr und Herbst mehr aus Geschäftsleuten besteht, sind es im Sommer vorwiegend Vergnügungsreisende. Zumeist sind es Familien mit Kind und Kegel, die auf den Wolgadampfern ihre Sommerferien verbringen. Oft stören sie dabei mit ihrer allzu großen Lebhaftigkeit die Mitreisenden; ich wenigstens musste diese Erfahrung machen. Nie vergessen werde ich meine Ankunft in der „Großstadt“ Kostroma. Ich hatte mir vorgestellt, in eine große Stadt zu kommen, da Kostroma immerhin die Hauptstadt eines Gebietes ist, dass in Ausdehnung der des Deutschen Reiches fast gleichkommt. Wie erstaunt war ich, anstelle eines so kleinen Hafens einen elenden Brettersteg inmitten einer Sandwüste vorzufinden. Wir gingen an Land. Im Ufersand lag allerhand Unrat, auch eine tote Katze. Nach einigem Waten im Sande kamen wir an die städtische „Promenade“. Es handelte sich um einen von kümmerlichen Bäumen eingefassten Weg und ganz zertretene, ungepflegte Rasenstreifen, auf denen einige angetrunkene Männer lagen und schliefen. Keinen Städter störte es, augenscheinlich waren sie diesen Anblick gewöhnt. Nun erst gelangten wir in die Stadt selbst, die einen ganz kleinstädtischen, trostlosen Eindruck machte. Die russischen Provinzstädte haben alle so etwas Ödes und Leeres an sich, was wohl an der weiten Ausdehnung liegen mag; vielleicht auch an dem Mangel an halbwegs schönen Gebäuden, die dort alle etwas Kasernenmäßiges an sich haben. Die Straßen sind, wenn überhaupt mit „Katzenköpfen“ gepflastert, gegen die unsere Kleinstadtstraßen wahre Parkettfußböden sind.
Und alles dies fand ich auch hier in der „Großstadt“ Kostroma. Wir suchten ein Hotel auf, um Mittag zu essen. Hierbei will ich nicht unerwähnt lassen, dass ich nie so gut gegessen und in solchem Überfluss geschwelgt habe, wie in Russland in den Jahren 1916 und 1917, obgleich ich von früher her auch gut bürgerliche und reichliche Küche gewöhnt war.
Und noch eins! Wir waren eine Sehenswürdigkeit! Überall wurden wir als Fremde genügend bestaunt, ungefähr so, wie bei uns in dem Welt verlassenen Dorfe. Kostroma war am Tage unserer Anwesenheit so gut wie ausgestorben, was vielleicht an der großen Hitze lag. Gegen Abend kam dann der Dampfer, mit dem wir die Heimfahrt antraten. Auf dieser hatten wir schönen, klaren Ausblick und einen herrlichen Sonnenuntergang“.
Kurt Zschau, Potsdam, Reiseerinnerungen von Alice von Lutzau
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: