Lesermeinung: Unfassbar
Vor dem Tod, 28.6.
Stand:
Vor dem Tod, 28.6. 2008
Seit mehr als 20 Jahren begleite und betreue ich ambulant sterbende Krebsschmerzpatienten. Wenn ich dabei auch nur selten auf das ambulante Hospizteam zurückgreife, so habe ich doch hohen Respekt vor der ehrenamtlichen Tätigkeit, wie sie Rita Witzki und ihre Mitstreiter ausüben. Wie entsetzlich muss es für sie sein, nicht nur die unterschiedlichen Patientenschicksale, sondern auch die scheinbar schicksalhaften (Arzt oder Kassen abhängige?) Therapien bei Krebspatienten am Lebensende zu erleben. Was hier von der Krebspatientin berichtet wird, ist aus medizinischer Sicht entsetzlich und für mich unfassbar. Dass dies in Potsdam heutzutage möglich ist, wo es mittlerweile eine Anzahl von anerkannten Palliativmedizinern gibt, lässt Schlimmes ahnen. Wer sind die palliativmedizinischen ärztlichen Kooperationspartner des ambulanten Hospiz in diesem Fall? Die Patientin hat offensichtlich über Jahre ein schweres Anorexie-Kachexie-Syndrom entwickelt, dieses dürfte PNN-Lesern gut bekannt sein. Ich bezweifle, dass alle zumutbaren Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft wurden, um diese Entwicklung zu verhindern oder aufzuhalten? Warum muss diese schwer gezeichnete Patientin täglich noch 15 Tabletten einnehmen? Das tägliche „Abspritzen“ von Schwerstkranken mag medizinisch als kurzfristige Notfalllösung akzeptiert werden, aber nicht in der geschilderten Dauerform. So ist es eine schwere Form von „Körperverletzung“, eine sinnlose und erfolglose Quälerei. Wenn die Patientin seit mehr als zwei Jahren nicht mehr gelacht und seit 13 Jahren keine Hoffnung hat, spricht dies doch sehr für eine schwere, dringend behandlungsbedürftige und ärztlich behandelbare chronische Depression. Wenn sie seit 13 Jahren wegen der Schmerzen, die Reise mit ihren Söhnen nicht unternehmen konnte, weist dies auf eine unterlassene (ärztliche) Hilfeleistung, nämlich einer effektiven Krebsschmerztherapie, hin. Die Schmerzen wird man unter Umständen nicht völlig beseitigen können, aber auf ein akzeptables und für die Patientin erträgliches Niveau kann man sie immer senken. Das Recht auf eine akzeptable Krebsschmerztherapie ist juristisch einklagbar. Wenn vor diesem völlig inakzeptablen Hintergrund die stationäre Sterbebegleitung in Potsdam diskutiert wird, muss der Bettenbedarf dringend nach oben korrigiert werden. Der hohe Bedarf an stationärer Sterbebegleitung in Potsdam würde sich mit Sicherheit reduzieren lassen, wenn endlich realistische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen für ambulante Krankenpflege und Ärzte geschaffen würden. Auch die zur Zeit diskutierte „spezialisierte ambulante Palliativversorgung“ wird unter diesen Umständen nicht wesentlich zur Problemlösung beitragen können.
Dr. Knud Gastmeier, Babelsberg
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