Meinung: Meinung ohne Gewähr
Auch das Urteil des Bundesgerichtshofes ändert wenig an den Exzessen im Internet
Stand:
Die andere Seite der Freiheit heißt Verantwortung. Das gilt gerade für die Pressefreiheit: Wenn etwas veröffentlicht wird, muss klar sein, wer dafür geradesteht – etwa, wenn die Inhalte beleidigend sind oder einer Person oder einem Unternehmen durch falsche Berichterstattung ein wirtschaftlicher Schaden entsteht. So weit die Theorie.
In der Praxis hat sich im Internet ein Freiheitsraum aufgetan, der im Zweifel auch ohne Verantwortung auskommt. Nicht um Reklame für meinen eigenen Blog (flatworld) zu machen, sondern um eine Erfahrung damit wiederzugeben, hier ein paar Details: Den Blog schreibe ich für Tagesspiegel Online. Ich stehe dort mit meinem Bild und meinem Namen ein für das, was ich schreibe. Gleiches gilt aber nicht für Kommentatoren, die auch zu diesem Beitrag ihre Meinung anonym abgeben können. Manche Kommentare in meinem Blog wurden allerdings so unflätig, dass ich mich gezwungen sah, jeden Fremdbeitrag vor seiner Veröffentlichung auf mögliche strafrechtlich relevante Inhalte hin zu überprüfen. Deshalb gibt es inzwischen auch einen anonym betriebenen Blog, in dem ich und andere Mitarbeiter des Tagesspiegels beschimpft werden. Es gibt wenig, was man gegen diese Form des Internet-„Stalkings“ tun kann.
Die Urheber von Verleumdungen, von Hetze und Hassparolen im Netz veröffentlichen normalerweise kein Impressum mit Klarnamen und Adresse. Weil sie schwer zu identifizieren sind, wählen viele einen juristischen Umweg und machen Provider und Betreiber von Internetforen für die dort veröffentlichten Inhalte verantwortlich. Das ist aber nur eine Krücke: Wird ein Blog geschlossen, taucht er meist woanders wieder auf. Zur Not zieht man sich in Länder zurück, in denen Verleumdungen nicht geahndet werden oder die kein funktionierendes Rechtssystem haben. Wer Hasspropaganda betreiben will, findet dafür immer einen Ort.
Das gestrige Urteil des Bundesgerichtshofes macht Internetanbieter noch eindeutiger für Inhalte verantwortlich, die bei ihnen veröffentlicht werden. Das ist richtig. Es hilft aber bei ausländischen Providern wenig – denn nichts ist entgrenzter als das Internet. Die Alternative wäre eine Netzzensur für ganz Deutschland, wie man sie aus China kennt. Letztlich ist es eine politische Rechnung: Wiegen Exzesse, wie der live gesendete Freitod eines Briten, schlimmer als der Freiheitsgewinn, der mit der Meinungsbörse Internet einhergeht?
Die Antwort ist eindeutig: Der Gewinn übersteigt den Schaden bei weitem. Gerade Internetblogs sind zu einem wichtigen Korrektiv für die klassischen Medien, die mächtige vierte Gewalt im Staat, geworden – sei es der Bildblog, der die Methoden von Europas auflagenstärkster Tageszeitung kritisiert, oder Davids Medienkritik, der den Antiamerikanismus von „Spiegel“, „Stern“ und anderen entlarvt.
Politische Blogs schmecken vielen aus der alten Journalistengarde nicht, weil sie befürchten, dadurch ihre Funktion als „gate keeper“ der öffentlichen Meinung zu verlieren. Das Internet erweitert die Meinungsvielfalt in Deutschland denn auch erheblich. Es macht deutlich, dass viele politische Ansichten – nicht nur an den extremen Rändern –, von den etablierten Medien nicht ausreichend abgedeckt werden. Letztlich muss man auch im Netz auf den freien Wettbewerb der Ideen vertrauen: Wer statt Argumenten nur Propaganda oder Beleidigungen zu bieten hat, wird dafür keine Mehrheiten finden.
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