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Meinung: Notstand im nuklearen Altersheim

Die Kernforschung darf dem Atomausstieg nicht zum Opfer fallen

Alexander S. Kekulé Heute wird das älteste Kernkraftwerk der Republik abgeschaltet: 37 Jahre nach seiner Inbetriebnahme geht der Reaktor Obrigheim vom Netz. Erledigt ist die Sache damit noch lange nicht. Der Abbau des radioaktiven Museumsstücks soll weitere 20 Jahre dauern. Wenn alles nach Plan läuft, wird der Atomausstieg bis 2021 abgeschlossen sein. Dann werden in Deutschland rund 20 Strahlenruinen abbautechnisch zu versorgen sein. Die Kosten liegen bei 30 Milliarden Euro, zuzüglich Endlagerung für die radioaktiven Abfälle. Für Letztere gibt es aber noch keinen Plan, ein Lager wird seit Jahrzehnten gesucht – der Pflegenotstand für die MeilerOpas ist bereits vorprogrammiert.

Möglicherweise läuft es aber gar nicht nach Plan, sondern kommt noch schlimmer. In dem 2001 vereinbarten Atomausstieg wurde nämlich neben der Endstation „2021“ auch festgelegt, wie viel Strom die Kernkraftwerke noch erzeugen dürfen. Von dieser Restmenge hat die Industrie, wie Umweltminister Trittin anlässlich der historischen Abschaltung freudig feststellte, heute bereits ein Drittel verbraucht. Nach Adam Riese könnte die deutsche Kernenergie also schon vorzeitig das Ende ereilen.

Das dürfte auch bei Befürwortern des Ausstiegs ein mulmiges Gefühl erzeugen: Die Kernkraft hatte im letzten Jahr einen Anteil von 28 Prozent an der Stromerzeugung, gefolgt von Braunkohle (26) und Steinkohle (16). Die erneuerbaren Energien lagen, trotz der Förderungen, nur bei 9,4 Prozent. Einheimischer Ersatz ist also nicht in Sicht. Schlimmstenfalls könnten die Deutschen eines Tages auf Atomstrom aus dem Ausland angewiesen sein.

Auch aus einem weiteren Grund wird die Rechnung für den Atomausstieg wohl nicht aufgehen. Im Jahr 2003 ging der Beirat der Bundesregierung „Globale Umweltveränderungen“ noch davon aus, dass durch „internationale Verhandlungen“ bis 2050 sämtliche Kernkraftwerke der Welt abgeschaltet werden könnten. Heute hat sich dieses Szenario regelrecht ins Gegenteil verkehrt: Die globale Kernenergiegewinnung wächst wie nie zuvor, nach Schätzung der Internationalen Atomenergiebehörde wird sie sich bis 2050 vervierfachen. Rund um den Erdball sind derzeit 30 Reaktoren im Bau, weitere 70 werden mehr oder minder konkret geplant. Zwei Drittel der Projekte entstehen in Asien. Aber auch Europa setzt ungebremst auf Atomstrom: Finnland, Russland, Tschechien, die Slowakei und Rumänien haben konkrete Pläne, allein die Ukraine will elf neue Reaktoren bauen – von Tschernobyl-Angst keine Spur.

Angesichts dieser Entwicklungen muss neu überlegt werden, ob Deutschland seine bislang hervorragende Position in der Kernenergieforschung und -technik wirklich aufgeben soll. Wenn schon rundherum Atommeiler hochgezogen werden, dann doch besser mit deutschen Sicherheitsstandards und Aufträgen für die deutsche Industrie.

Ohne umgehendes Gegensteuern wird Aussteiger Deutschland jedoch bald das Know-how ausgehen. Das Fach Kernenergietechnik belegen heute nur noch einige Hand voll Studenten, das Durchschnittsalter der deutschen Experten dürfte bereits jenseits der Fünfzig liegen. Der bisher eingetretene Rückstand könnte durch Förderung von Ausbildung, Forschung und Entwicklung innerhalb weniger Jahre wettgemacht werden – vorausgesetzt, diesmal läuft alles nach Plan.

Der Autor ist Institutsdirektor und Professor für Medizinische Mikrobiologie in Halle. Foto: J. Peyer

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