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Meinung: Öl statt Blut

In Venezuela eskaliert der Konflikt um die Macht. Das Land steht wirtschaftlich am Abgrund

Man kennt die Geschichte von den Lemmingen, die sich selbst massenweise in den Tod stürzen, um ihre Art zu retten. So etwas ähnliches passiert gerade in Venezuela. Die wirtschaftliche Elite des Landes ist dabei, sich und dem ganzen Land die Lebensgrundlage zu entziehen, um den Rücktritt des Staatsoberhaupts Hugo Chavez zu erzwingen. Der Streik in der Ölindustrie, der Lebensader Venezuelas, hat eine selbstzerstörerische Dynamik angenommen. Selbst wenn ein Unternehmen heute die Produktion wieder aufnehmen wollte, kann es dies wegen Energiemangel oder wegen fehlender Vorprodukte nicht tun. Die Wirtschaft steht still, viele Unternehmen können die Löhne nicht mehr bezahlen und drohen in Konkurs zu gehen. Viele Produkte gibt es schon gar nicht mehr, andere sind wegen der Inflation unerschwinglich teuer geworden. Die wirtschaftliche Not schürt Verzweiflung und Hass in einer extrem polarisierten Gesellschaft, die sich zunehmend bewaffnet: eine Eskalation, die das Land wirtschaftlich in den Abgrund treibt.

Nur zweieinhalb Jahre ist es her, dass eine Mehrheit der Venezolaner den Ex-Oberstleutnant und selbst ernannten Revolutionär Chavez im Amt bestätigte. Seitdem hat er es durch seinen autoritären, keine Kritik duldenden Regierungsstil, sein äußerst provokatives und aggressives Auftreten und seine sorglose Missachtung traditioneller und gesetzlich festgeschriebener Regeln geschafft, selbst ehemalige Bundesgenossen zu erbitterten Feinden zu machen. Eine Hälfte der Bevölkerung hat Chavez betrogen, weil seine „Revolution“ sich als Luftnummer erweist, die andere Hälfte hat er verschreckt, weil er ihnen ein totalitäres, kommunistisches System im Stile Kubas ausmalte. Chavez sei ein Schaumschläger, der bisher nichts von dem, was er in seinen langen revolutionären Erklärungen ankündigte, in die Tat umgesetzt hat, meinen die, die ein gewisses Maß an Objektivität zu bewahren suchen.

Noch herrscht absolute Presse- und Meinungsfreiheit in Venezuela, funktioniert auch die Gewaltenteilung halbwegs, sind die Sicherheitskräfte in der Lage, die fast täglichen Konfrontationen zwischen Chavez-Anhängern und -Gegnern zu entschärfen, ist auch von Enteignung oder sonstigen staatlichen Eingriffen in die Privatwirtschaft wenig zu spüren. Doch je länger der Konflikt und vor allem der Streik anhält, desto mehr verhärten sich beide Seiten. Chavez ist entschlossen, sich nicht in die Ecke drängen zu lassen und hat Militär und Sicherheitskräfte unter seine Kontrolle gebracht, wiegelt gleichzeitig seine Anhänger in den untersten Gesellschaftsschichten zum notfalls bewaffneten Widerstand gegen die „Oligarchen“ auf. Selbst „Chavistas“ geben mittlerweile zu, dass baldige Neuwahlen die einzige Lösung sind. Doch solange der Streik anhält, wollen sie nicht verhandeln. Die Opposition fürchtet, dass Chavez seine Macht nur weiter festigen wird, wenn der wirtschaftliche Druck nachlässt. Beide Seiten hoffen, die andere werde aufgeben, bevor das Land ins wirtschaftliche und soziale Chaos fällt.

Vielleicht ist es ein Glück, dass Venezuela einer der wichtigsten Öllieferanten der Welt und als solcher am Vorabend eines Golfkrieges besonders wichtig ist. So ist zu hoffen, dass sich das Ausland einschaltet und vermittelt, bevor die Venezolaner sich endgültig in den Abgrund stürzen.

Anne Grüttner

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