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Meinung: Rechtswege: Sie nennen es Betreuung

In dieser Kolumne berichte ich heute von zwei Menschen, die irgendwo in der Bundesrepublik leben. Ich will nicht enthüllen, anprangern oder zu etwas aufrufen.

In dieser Kolumne berichte ich heute von zwei Menschen, die irgendwo in der Bundesrepublik leben. Ich will nicht enthüllen, anprangern oder zu etwas aufrufen. Ich will nicht angreifen. Es soll nicht erkennbar sein, wer diese Menschen sind und wo sie in Not sind. Es geht mir nur darum, dass wir auf dem Weg zum Rechtsstaat sind, dass wir ihn aber nie erreichen werden.

Es gibt die Entmündigung nicht mehr. An ihre Stelle ist die Betreuung getreten. Das ist ein Schritt gegen das Ausgrenzen, gegen das Abschieben von Menschen. Das ist das, was wir einen Fortschritt nennen - nur dass uns unsere Fortschritte auf den Rechtswegen eben dem Rechtsstaat nur näher bringen.

Für die Einsetzung eines Betreuers, dessen Einwilligung der Betreute bedarf, gelten die Begriffe Geisteskrankheit, Geistesschwäche, Verschwendung, Trunk- oder Rauschgiftsucht nicht mehr als Voraussetzung. Stattdessen geht es um die Hilfs- oder Pflegebedürftigkeit des Betroffenen. Dabei soll den Wünschen und Fähigkeiten des Betroffenen auch bei Geschäftsunfähigkeit - "soweit als möglich und zumutbar", wie es in Creifelds Rechtswörterbuch heißt - entsprochen werden. Das ist ein Fortschritt, nur eben einer auf dem Weg zum auf Erden unerreichbaren Rechtsstaat.

Eine Nachbarin wird auf strengen Geruch aufmerksam in einem Senioren-Stift. Auch krabbeln Maden unter der Tür einer Wohnung hervor. Man öffnet die Tür und findet den Bewohner, einen 62 Jahre alten Mann, auf dem Boden liegend vor. Er lebt noch und wird in eine Klinik gebracht. Seit etwa einer Woche hat niemand den Mann gesehen. "Wir haben ja keine Bevormundung der Mieter", erklärt - zutreffend - die Geschäftsführung. Ihre Sache ist nur Teilbetreuung. Es gibt gemeinsame Aktivitäten und Beratungen, und immerhin haben die Bewohner eine Notrufklingel in der Wohnung. Aber die ist nicht betätigt worden.

Die Stiftung will Konsequenzen ziehen. Auf einer Sondersitzung will man über Änderungen beraten. Dem Vorstand gehört ein angesehener Anwalt an. Es wird schon etwas geschehen. Hier ist der Spielraum des Fortschritts zu groß gewesen. Der Verzicht auf Bevormundung darf nicht zu einer Teilbetreuung führen, die Unverzichtbares auslässt.

An einem Sonntagnachmittag, irgendwo in der Bundesrepublik, ruft eine Frau bei der Polizei an. Ihr Ehemann sei ihr fortgelaufen. Die Prüfung der Unterlagen ergibt, dass der Ehemann seit fünf Jahren tot ist. Ein Streifenwagen, eine Notärztin, ein Krankenwagen werden eingesetzt. Die Frau ist 75 Jahre alt. Seit dem Tod ihres Mannes lebt sie allein in dem Haus, das er ihr hinterlassen hat. Sie bezieht eine Rente von 3600 Mark. Sie ist wirtschaftlich in einer guten Situation. Sie verlässt ihren Wohnsitz nur, um Zeitschriften mit Kreuzworträtseln zu kaufen und Zigaretten, denn sie ist Raucherin. Um sie kümmert sich regelmäßig eine Frau, die den Haushalt besorgt, sie zu Besorgungen fährt, darauf achtet, dass sie sich pflegt und isst. Und die mit ihr spricht. Der Mann dieser Frau pflegt den Garten und das Haus. Die 75-Jährige will in ihrem Haus bleiben bis zuletzt, in ein Heim will sie nicht.

Die Notärztin erklärt sie zu einem Pflegefall, kurz und knapp, abweisend gegen die Nachbarn, die ihr seit fünf Jahren zur Verfügung stehen, wenn sie von ihr aufgesucht werden oder ihr begegnen, wenn sie doch einmal einen Gang nach draußen tut und sich ein wenig Ansprache sucht.

Die Frau, die seit Jahren Witwe ist, lässt sich freiwillig in ein Krankenhaus einweisen. Sie hat zu wenig getrunken, sie ist ausgetrocknet. Nach ein paar Tagen wird sie entlassen und als Pflegefall - denn ein solcher sei sie, hat die Notärztin entschieden - in ein Heim gebracht. Dort wird sie in ein Zimmer gelegt, in dem eine bewegungsunfähige Insassin liegt. Als die sie bittet, nicht schon um sechs Uhr früh aufzustehen, wird sie sehr böse. Nun kommt sie in ein Zimmer mit zwei Frauen, die nicht mehr ansprechbar sind. Immer wieder verlässt sie das Heim und versucht, in ihr in der Nähe liegendes Haus zu kommen. Doch sie hat keinen Schlüssel, die sind alle eingesammelt worden.

Das Haus gehört ihr übrigens nicht mehr. Am 29. November 2000 hat sie ihrem einzigen Kind, einem 56 Jahre alten Sohn, verheiratet, fernab wohnend, beim Notar eine Generalvollmacht erteilt. Sie hat nichts mehr zu entscheiden. Sie hat diesem Bevollmächtigten alles abgetreten, was sie besitzt, und er hat auch über alle ihre persönlichen Angelegenheiten zu befinden, auch was ihre Gesundheit und mögliche Erkrankungen angeht. Und seine Vollmacht erlischt auch nicht, sie hat das unterschrieben, durch den Eintritt ihrer Geschäftsunfähigkeit.

Ihr Sohn ist noch nicht angereist, weil das Heim meint, durch seinen Besuch werde ihr das Eingewöhnen erschwert. Er will sie als Pflegefall im Heim haben. Wie kann er mir das antun, sagt sie. Ihr Arzt hat ihr starke Tabletten verordnet. In Gesprächen mit ihr hätte er erfahren können, dass ihr der Mann während der Ehe immer wieder fortgelaufen ist, eine Freundin hatte. Damit ist sie, fünf Jahre nach seinem Tod, noch nicht zurecht gekommen. Und so hat sie am Telefon gesagt, er sei ihr fortgelaufen.

Der Spielraum der Betreuung lässt sich noch immer weit über die Bevormundung hinaus einengen. Das Vormundschaftsgericht hatte der Notar nicht hinzugezogen. Der Notar hat ein unabhängiger und unparteiischer Betreuer der Beteiligten zu sein. Ausgegrenzt, abgeschoben ist die Frau. Wir sind nur auf dem Weg zum Rechtsstaat.

Gerhard Mauz

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