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Meinung

© Martha von Maydell für den Tagesspiegel

Über ihren Köpfen: Wie der Westen die Burka instrumentalisiert

Die Burka-Debatte ist zum Stellvertreterkrieg zwischen Ost und West geworden. Dabei ist dieses Stück Stoff nicht das größte Problem der afghanischen Frauen.

Ein Essay von Shikiba Babori

Betrachtet man die Situation afghanischer Frauen im Kontext der Geschichte, so wird schnell deutlich, wie sehr ihre Stellung im Land den jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen unterworfen war. Je nach ideologischer Überzeugung der beteiligten Player wurden den Frauen ganz nach Belieben ihre persönlichen Rechte ab- oder zuerkannt.

Afghanische Herrscher waren entweder zu schwach und ließen sich daher zum Preis geopolitischer Einflussnahme finanziell und militärisch von den Weltmächten unterstützen, oder es wurde mit denselben Mitteln eine Opposition im Land aufgebaut, um das jeweils herrschende System zu stürzen. In einer multiethnischen und stammesorientierten Gesellschaft wie Afghanistan ist es erstaunlich einfach, für die Durchsetzung eigener Ziele Mitstreiter zu finden, indem man ethnische oder religiöse Gruppen mit unterschiedlichen Überzeugungen gegeneinander ausspielt.

In der Entwicklung des Landes sind daher seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts wiederholt Perioden liberaler Politik hinsichtlich der Frauenrechte erkennbar. Aber genauso regelmäßig werden diese von Kräften abgelöst, die alle Errungenschaften zunichtemachen. Dabei hat es allerdings stets große Differenzen zwischen ländlichen und städtischen Gebieten gegeben. Ebenso spielen die ethnische Zugehörigkeit, die Konfession und der Bildungsgrad dabei eine erhebliche Rolle.

Die Diskurse um die Burka sind deutlich komplexer als oft in der westlichen Öffentlichkeit dargestellt (Archivbild).
Die Diskurse um die Burka sind deutlich komplexer als oft in der westlichen Öffentlichkeit dargestellt (Archivbild).

© AFP/Shah Marai

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts befand sich Afghanistan in einem ersten westlich orientierten Modernisierungsprozess. Seitdem haben sich die Herausforderungen, mit denen sich Frauen in Afghanistan im Kampf um ihre Rechte und ihre Beteiligung an der Gestaltung der Gesellschaft konfrontiert sahen, dauernd gewandelt.

Sucht man heute nach Belegen für frühere Entwicklungen der Emanzipation und Partizipation von Frauen in Afghanistan, so werden nicht selten Fotos bemüht, vor allem aus den 60er und 70er Jahren. Anhand ihres Umfelds (in der Universität, im Straßenbild oder bei Feierlichkeiten) und der Kleidung ist schnell zu erkennen, dass Frauen in Afghanistan immer wieder eine Welle der Freiheit und der Gleichberechtigung erlebt haben. Allerdings wird im Westen eine Frau, die keine Burka trägt und in einem Minirock zu sehen ist, fälschlicherweise als gleichberechtigt und selbstbestimmt wahrgenommen.

Das eigentliche Problem afghanischer Frauen war und ist nicht das Tragen des Schleiers oder der Burka, sondern dass ihnen grundsätzliche Menschenrechte vorenthalten werden. Daher ist es wichtig, festzuhalten: Selbst in den Phasen, in denen die Förderung der persönlichen und gesellschaftlichen Rechte der Frauen einen politischen Zweck erfüllte, spielten diese Errungenschaften nur in der Hauptstadt und den wenigen anderen Großstädten und immer nur in der Elite eine zentrale Rolle im Alltag. Wenn von Frauenrechten die Rede ist, so kann man sicher sein, dass die Mehrzahl der Frauen in Afghanistan niemals davon profitiert hat. (...)

Wie die Burka fälschlicherweise zum Symbol für das Leid der Afghaninnen geriet

Eine Frau kann durch das Verbergen ihrer Identität Scham und Schande abwehren, daher darf sie nicht erkennbar werden, sie sollte am besten unsichtbar sein, um üble Nachrede zu vermeiden. Denn eine Frau, die nicht erkannt wird, kann auch nicht einer Familie zugeordnet werden und somit das Ansehen ihrer männlichen Verwandten nicht in Verruf bringen. Das perfekte Kleidungsstück, um Unsichtbarkeit zu gewährleisten, ist die Burka, tschadori. Unter dem blauen Stoff ist die Frau gesichts- und damit identitätslos.

Dem Thema Burka wurde in den letzten Jahren in den westlichen Medien ein derart hoher Stellenwert eingeräumt und dieses Stück Stoff derart politisiert, dass ich hier gerne auf eine Kommentierung verzichtet hätte. Ich habe mich dann allerdings doch anders entschieden und hoffe, einige Vorurteile und falsche Annahmen aus der Welt schaffen zu können.

Das blaue Tuch, das die Frau von Kopf bis Fuß bedeckt, tragen die afghanischen Frauen seit vielen Jahrzehnten, früher auch in anderen Farben und nicht nur in Blau. Eine Legende besagt, dass die Burka ursprünglich geschaffen wurde, die Schönheit der Frauen eines Harems zu verbergen und somit den „bösen Blick“ von ihnen abzuwenden. Später wurde sie auch von einfachen Frauen getragen, um auf geheimnisvolle Weise die eigene Erscheinung aufzuwerten.

Noch nicht vollverschleiert: Afghaninnen 2009 bei der Neujahrszeremonie in Mazar-i-Sharif (Archivbild).
Noch nicht vollverschleiert: Afghaninnen 2009 bei der Neujahrszeremonie in Mazar-i-Sharif (Archivbild).

© AFP/Shah Marai

Daher wurde die Burka meist aus qualitativ hochwertigen Stoffen, manchmal sogar aus Seide, in den Farben Blau, Grün, Weiß und Orange hergestellt und sehr aufwendig mit der Hand bestickt. Für viele Frauen war es deshalb schon aus finanziellen Gründen nicht möglich, eine Burka zu besitzen. Inzwischen ist sie zu einer globalen Ware geworden, die aus billigen Materialien hergestellt und aus China importiert wird.

Je nach regionaler, tribaler und sozialer Zugehörigkeit sind die Anforderungen an die Bewegungsspielräume der Afghaninnen sehr unterschiedlich. Daher wurde die Burka viel häufiger in den Städten getragen als außerhalb. Denn für Frauen, die schwere landwirtschaftliche Arbeit verrichten, oder für die Nomadenfrauen, die sich über weite Strecken bewegen und um das Vieh kümmern müssen, ist sie ein unpraktisches Kleidungsstück. Diese Frauen tragen traditionell ein großes buntes und besticktes Kopftuch, tschador, das sie auch vor Sonne schützt und bei Kälte wärmt.

Die Burka wurde in den Augen vieler westlicher Beobachter fälschlicherweise das Symbol für das Leiden der Afghaninnen schlechthin. Etliche gingen sogar davon aus, dass die Taliban die Burka erfunden hätten, was nicht stimmt.

Afghanische Frauen gehen pragmatisch mit der Burka um

Darauf, dass Identität und Sichtbarkeit der afghanischen Frau bereits seit den 20er Jahre auch innerhalb Afghanistans immer wieder zu einem Politikum gemacht wurde, habe ich bereits ausführlich hingewiesen. Zu Zeiten, in denen die Frauen massiv unterdrückt und in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt wurden, war die Burka auch ein Mittel, um sich unbemerkt bewegen und trotz der Repressalien ihr Leben organisieren zu können.

Vor einigen Jahren habe ich mir in Afghanistan selbst eine Burka zugelegt. Nicht, um sie zu tragen, sondern um sie in Europa in den von mir geleiteten Vorbereitungskursen für Personen, die in Afghanistan arbeiten, oder bei Vorträgen und Veranstaltungen zum Thema Geschichte, Politik und Kultur Afghanistans zu zeigen. Die TeilnehmerInnen hatten so die Möglichkeit, sie einmal selbst anzuprobieren. Oft sind es Männer, die sich dafür interessieren. Frauen sind da viel zurückhaltender. Worauf ich noch keine Antwort habe, ist die Frage, was machen Brillenträgerinnen? Denn unter die Burka passt keine Brille.

Einige Frauen, die ich in all den Jahren in Afghanistan treffen und kennenlernen durfte, pflegen einen völlig pragmatischen Umgang mit der Burka. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Lehrerin, die uns in Kabul an der Grundschule unterrichtete. Ihr Aussehen war ihr immer sehr wichtig. Selbst zur Schule kam sie stets adrett mit Bluse und Rock gekleidet. Sie trug eine Kurzhaarfrisur und war immer stark geschminkt. Viele respektierten sie, da sie sehr selbstbewusst war und auch dementsprechend auftrat.

Gleichzeitig war sie einigen Menschen aber sehr suspekt, weil sie geschieden war und alleine lebte. Auf jeden Fall besaß diese Lehrerin auch eine Burka, die sie sich an den Tagen überzog, an denen sie im Bazar etwas erledigen musste, aber vorher keine Zeit gehabt hatte, sich wie gewohnt zurechtzumachen. An ihren „bad hair days“ warf sie sich die Burka über, in der Schule erschien sie so nie.

Kabul, November 2021: Ein Taliban-Kämpfer bewacht die Schlange vor einer Ausgabestelle des UN-Welternährungsprogramms.
Kabul, November 2021: Ein Taliban-Kämpfer bewacht die Schlange vor einer Ausgabestelle des UN-Welternährungsprogramms.

© AFP/Hector Retamal

Viele Frauen nutzen die Burka inzwischen durchaus in einem ganz praktischen Sinne, wenn auch nicht so extrem wie meine Lehrerin. Tatsächlich weiß ich von Journalistinnen, die unter dem Schutz des blauen Überwurfs ihrer Arbeit nachgehen und ohne großes Aufsehen zu erregen Fotos machen, zu denen sie sonst nie die Gelegenheit hätten. Eine Kollegin transportiert sogar eine Filmkamera unter dem Stoff.

Aber auch viele arme Frauen, die sich für ihre verschlissene Kleidung schämen, ziehen sich eine Burka über. Nicht zuletzt blieben in Zeiten von Hunger und Not Frauen unter der Burka unerkannt, wenn sie gezwungen waren, als Prostituierte für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten.

Hier soll nicht der Eindruck entstehen, dass ich für das Tragen der Burka bin, ganz abgesehen davon, dass sie die Bewegungsfreiheit stark einschränkt. Ich bewundere Frauen, die mit der Burka, an jeder Hand ein Kind und ihre Einkäufe, die viel befahrenen Straße überqueren, ohne überfahren zu werden, und dabei mit den kleinen Gitterfenstern vor den Augen den Kopf sehr rasch hin und her bewegen müssen, um den Überblick zu behalten. Ich halte die Burka für menschenverachtend, weil sie die Frauen ihrer Identität beraubt.

Kabul, Mai 2022: Afghaninnen protestieren gegen die Anordnung der Vollverschleierung durch die Taliban.
Kabul, Mai 2022: Afghaninnen protestieren gegen die Anordnung der Vollverschleierung durch die Taliban.

© AFP/Wakil Koshar

Mir ist es in jedem Fall wichtig, deutlich zu machen, dass die Burka, anders, als es oft in den Medien dargestellt wird, nicht das gravierendste Problem der afghanischen Frau ist. Ihr Problem ist vielmehr der fehlende Zugang zu medizinischen Einrichtungen, ihr Problem ist, dass ihre Sicherheit und Unversehrtheit nicht gewährleistet sind, ihr Problem ist, dass sie keinen Zugang zu Bildung und Arbeit hat. Und ihr Problem ist, dass es Männer sind, die ihr auferlegen, die Burka tragen zu müssen.

Es gibt in Afghanistan Frauen, die auf keinen Fall gewillt sind, die Burka anzuziehen, es gibt aber auch welche, die sich damit geschützter fühlen. Es gibt auch die Gruppe der Frauen, wie meine Lehrerin, die sie nach Bedarf tragen und selbst entscheiden wollen, wann und wann nicht. Das alles hat seine Berechtigung und soll möglich sein.

Was jedoch nicht hingenommen werden kann, ist, dass eine Gruppe von Männern das obligatorische Tragen der Burka durchsetzen will und dass Männer sich herausnehmen, dadurch über die Identität der Frauen zu entscheiden.

Der Westen vereinnahmt den feministischen Diskurs

Bedauerlicherweise wird die Burka oft als Grundlage für einen kolonialen Diskurs genutzt, um aus westlicher Sicht und von oben herab auf ein vermeintlich primitives und rückständiges Land und sein rückständiges Volk hinzuweisen, das nicht in der Lage ist, sich dem Mainstream der westlichen Werte und Verhaltensweisen der „modernen Welt“ anzuschließen.

Aus dieser Überzeugung heraus wurde die Burka als Symbol für die Unterdrückung der Frau gesehen und dafür instrumentalisiert, die vermeintliche Rückständigkeit des Islams zu demonstrieren. Diese Haltung, gekoppelt mit dem Anspruch, Feminismus sei eine westliche Erfindung, hat den Frauenrechten in Afghanistan den Ruf eingebracht, ein Instrument westlicher Herrscher zu sein, mit dem Machtinteressen durchgesetzt werden können, um die heimische Kultur zu untergraben. Leider hat diese Haltung dem Kampf um die Rechte der Frauen in Afghanistan eher geschadet als genützt und den patriarchalen Hardlinern mehr Anhänger verschafft.

Afghanische Frauen demonstrieren im September 2021 für ihre Rechte unter den Taliban.
Afghanische Frauen demonstrieren im September 2021 für ihre Rechte unter den Taliban.

© picture alliance/dpa/AP

Einige Afghaninnen, die lange Jahre in anderen muslimischen Ländern gelebt haben, haben die Art und Weise der Bekleidung dort adaptiert und führen dies nun in Afghanistan fort. Falls sie dies nicht unter dem Zwang ihrer Männer tun, ist es ihre persönliche Entscheidung. Mit der afghanischen Tradition hat das allerdings nichts zu tun. Diese besagt lediglich, dass eine Frau keine enge Bekleidung tragen darf, um ihre Körperformen nicht zu betonen, und den Kopf mit einem tschador zu bedecken hat.

Diese Kleiderordnung wird aber absurderweise von einer Gruppe von Islamisten für nichtig erklärt. Sie zwingen Frauen, ihre Gesichter zu bedecken, da der wahre Islam dies angeblich vorschreibe. Dabei handelt es sich in Wahrheit um nichts anderes als eine Fehlinterpretation der religiösen Gesetze durch Männer, mit dem Ziel, Frauen zu unterdrücken. Denn nach dem Islam muss die Frau keineswegs ihr Gesicht, also ihre Identität verbergen.

Die Burka-Diskussion verselbstständigte sich in den letzten Jahren zu einem Stellvertreterkrieg zwischen Ost und West, zwischen Tradition und Moderne. Dabei zeigt der Westen arrogant auf den Osten und seine Traditionen samt seiner Religion und stellt sie als rückständig und primitiv dar. Und der Osten will sich das nicht gefallen lassen und erfindet eine absurde Regel nach der anderen, um seine Frauen angeblich zu schützen.

Ausgetragen wird diese Auseinandersetzung auf Kosten der Frauen, indem sie zum Gegenstand einer kriegerischen Dissonanz werden: Der eine zwingt sie mit falschen religiösen Argumenten unter die Burka und verbannt sie aus der Öffentlichkeit, um leichter seine Macht über sie ausüben zu können. Der andere reißt sie ihr vom Körper und feiert das als Zeichen einer vermeintlichen Aufklärung.

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