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Meinung: Verantwortung auch für die Gescheiterten

Von Robert Birnbaum Auch Katastrophen haben ihre Gesetze. Sie geschehen und verschlagen dann allen die Sprache; die ersten, die wieder Worte finden, nennen das Ereignis "unfassbar".

Von Robert Birnbaum

Auch Katastrophen haben ihre Gesetze. Sie geschehen und verschlagen dann allen die Sprache; die ersten, die wieder Worte finden, nennen das Ereignis "unfassbar". So ist es geschehen in den Stunden und Tagen nach den Todesschüssen von Erfurt. Aber diese Phase des ersten Schocks dauert nie lange. Wir halten den Gedanken gar nicht aus, dass menschliches Verhalten wirklich unfassbar sein könnte - unverständlich in seinen Ursachen und Motiven, seinen Gründen und Abgründen. Wir suchen nach Erklärungen. Wir tun dies in der Hoffnung, dass die Erklärung Wege aufzeigt, wie eine Wiederholung der Katastrophe zu verhindern ist.

Diese Suche nach Erklärung und Abhilfe ist so notwendig wie gefährlich. Die Gefahr liegt weniger darin, dass dieser und jener Politiker es nicht lassen kann, die 17 Toten von Erfurt als Wahlkampfhelfer zu missbrauchen. Die Gefahr liegt darin, dass die Antworten zu kurz greifen und nur der Selbstberuhigung dienen. Solchem Placebo-Verdacht unterliegen alle Vorschläge, die unter den Überschrift "Verbot" und "Verschärfung" daherkommen. Natürlich ist es nicht falsch, das Waffenrecht zu verschärfen. Es ist ohnehin schwer einzusehen, weshalb irgend ein Normalbürger egal welchen Alters eine Schusswaffe besitzen darf. Man beruhige sich nur nicht zu schnell: Wo ein Wille ist, findet sich eine Waffe. Das Problem ist der Wille.

Was aber treibt einen jungen Menschen dazu, nicht nur sich selbst zu vernichten - das tun, ohne dass es gleich in der Zeitung steht, in ganz ähnlicher Situation viel mehr junge Menschen als wir wahrhaben wollen -, sondern andere Menschen mit? Das schlechte Vorbild, sagen viele und verweisen auf Gewalt in Fernsehen und Computer. Daran ist wahrscheinlich richtig, dass es selten zuvor so perfekt möglich war, sich selbst in Traumwelten zu versetzen, in denen das eigene Ich als schwarzvermummter Ninja-Kämpfer vir"tu"elle Mordtaten an virtuellen Gegnern vollbringt, und dies in der Regel im n einer vom Drehbuchschreiber erdichteten kruden Gerechtigkeit. Hier von Staats wegen engere Grenzen zu setzen, ist nicht falsch - nicht, weil Verbote im Zeitalter von Satelliten-TV und Internet wirklich effektiv sein können, sondern weil sie einen Willen der Gesellschaft dokumentieren: Bis hierher und nicht weiter. Aber auch hiermit beruhige sich niemand zu schnell.

Das Hauptproblem ist nicht das Angebot. Das Problem ist die Nachfrage nach solchen Alptraumgebilden. Wir kommen damit an einen Punkt, an dem Politik gefordert und überfordert zugleich ist. Es geht, etwas vereinfacht gesagt, um die Frage, wie wir mit Helden umgehen und wie mit denen, die das Zeug dazu nicht haben. Historisch gesehen hat noch nie eine Gesellschaft jungen Menschen eine solche Fülle von Möglichkeiten geboten - aber auch noch nie eine solche Fülle von Möglichkeiten zu scheitern. Von ersterem ist viel die Rede, von letzterem kaum. Es gibt, vom "Manager des Jahres" bis zum Leinwand-Rambo, reichlich Vorbilder für Spitzenleister. Es gibt aber nur sehr wenige gesellschaftliche Muster für einen positiven Umgang mit Versagen. Dagegen kann die Politik mit ihren üblichen, eher kurzatmigen Instrumenten sehr, sehr wenig ausrichten. Sie sollte auch nicht so tun, als könnte sie es. Keine Wertedebatten von oben herab, bitte! Auch keine Rechthaberei. Dafür aber etwas von der Irritation bewahren, die die Tat von Erfurt ausgelöst hat, und etwas von der Nachdenklichkeit.

Man lese einmal die Wahlprogramme der Parteien daraufhin durch, welches Gewicht sie auf das Thema "Deutsch"land muss Spitze werden / bleiben" legen und welchen Raum darin die Sorge für diejenigen einnimmt, die diesem Rennen nicht gewachsen sind. Da wird sich etwas ändern müssen, nicht nur bei ein paar Paragrafen im Waffenrecht. Damit wird die Gesellschaft insgesamt, also jeder Einzelne, nicht von Verantwortung entlastet. Verantwortung dafür, nicht wegzuschauen oder - was ja nur Wegschauen auf höherem Niveau darstellt - nach Politik, Schule, Behörden zu rufen, wenn ein Mensch zu scheitern droht. Der junge Mann aus Erfurt ist auf furchtbare Weise gescheitert. Es wird auch die beste Politik und die sorgsamste Gesellschaft solche Extremfälle nie verhindern können. Aber sie soll sich bemühen.

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