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Mon BERLIN: Vom Sexladen in die Teestube

Eine Kreuzung ist nach allgemein akzeptierter Definition ein Schnittpunkt zweier Straßen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Das Zusammentreffen der Kaiser-Friedrich- mit der Bismarckstraße im Herzen von Charlottenburg wäre also eine Frucht des Zufalls, eine Fügung, die willkürliche Schöpfung eines Stadtplaners, dem es um die Verschränkung zweier großer Achsen geht, damit die eine wie die andere ihren Lauf durch das Dickicht der Hauptstadt fortsetzen kann.

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Eine Kreuzung ist nach allgemein akzeptierter Definition ein Schnittpunkt zweier Straßen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Das Zusammentreffen der Kaiser-Friedrich- mit der Bismarckstraße im Herzen von Charlottenburg wäre also eine Frucht des Zufalls, eine Fügung, die willkürliche Schöpfung eines Stadtplaners, dem es um die Verschränkung zweier großer Achsen geht, damit die eine wie die andere ihren Lauf durch das Dickicht der Hauptstadt fortsetzen kann. Die zwei Berliner Straßen scheinen auf den ersten Blick überhaupt nicht zusammenzupassen. Sie prallen auf dieser seelenlosen Kreuzung zusammen. Die noblen Häuser von einst wurden im Bombenkrieg pulverisiert, und an ihrer Stelle wurden in den 60er Jahren scheußliche Blocks hingeknallt. Von der Vergangenheit keine Spur mehr. Ein zeitloser Ort, ohne eigene Identität, düster, wie es in Berlin so viele gibt. Übrigens glaube ich, dass weder Kaiser noch Reichskanzler – wenn man sie gefragt hätte – ihre Namen für eine dermaßen eleganzfreie Kreuzung hergegeben hätten.

Man muss seinen Fluchtreflex unterdrücken und einige Zeit am Rand des manischen und nie abschwellenden Stroms von Autos zubringen, man muss, vom Verkehrslärm fast taub, auf dem Bürgersteig stehen bleiben, um die versteckten Verbindungslinien zwischen den vier Ecken der Kreuzung zu entdecken. Dass eine „Video World“ und ein „Matratzen Factory Outlet“ sich anschauen, ist nicht so absurd, wie es zunächst aussieht. Nach 90 Minuten Bruce Willis, Glatze, Testosteron, Six Pack, Maschinenpistole und hit and run sind die Kaltschaummatratzen, schonend und rückenfit, auf dem Trottoir gegenüber ein Segen. Yin und Yang in Charlottenburg. Schnell erkennt man auch die tiefere Logik darin, dass LSD – „Love Sex & Dreams“ – der schäbige Sexshop (der sich Erotikstore nennt, das ist cooler!) einem altmodischen kleinen Geschäft gegenüberliegt, das im vorderen Teil Tee und hinten Schlüssel und Schlösser verkauft.

Wenn auch die wechselseitige Entsprechung von Sexshop und Teeshop mir sofort eingeleuchtet hat, so habe ich bis heute nicht verstanden, welche heimliche Komplizenschaft zwischen Lapsang Souchong und Earl Grey vorn und Schlüsseln, Schlössern und Tresoren hinten besteht. Und auch nicht, warum dieser harmlose Laden videoüberwacht sein muss – ein Aushang an der Tür weist darauf hin, dass Big Brother das Kommen und Gehen zwischen Porzellantassen, Sieben, Samowaren, Kränzen aus Trockenblumen und Schalen mit Kandiszucker überwacht.

Die Städte weisen ihre eigene unsichtbare Harmonie auf, und ich habe schnell begriffen, dass Tee und erotische Erregung perfekt zusammenpassen. Nachdem man den im Schaufenster des LSD ausgestellten Matrosenanzug und die roten Glitzerdessous anprobiert hat – im Moment gibt es sales (auf Englisch, das ist lockender!) „für das gesamte Sortiment!“ – empfiehlt es sich für die aufgeheizten Seelen, auf der anderen Straßenseite eine große Tasse „Perle der Nacht“ zu trinken, um den Herzschlag wieder zu beruhigen und sich auf den wohlverdienten Schlaf vorzubereiten. Umgekehrt ist es vernünftig, sich auf einem der kleinen Sessel aus schwarzem Skai des Teegeschäfts niederzulassen und einen großen Schluck „Beam me up“ oder „Adam und Eva“, einen aphrodisischen Punsch, zu sich zu nehmen, bevor man über die Straße stürzt und hinter den blinden Fenstern des LSD verschwindet. Ein Erotikstore und eine Teestube haben einen geheimen Kooperationsvertrag abgeschlossen. Vergessen Sie Pigalle und Soho! Vergessen Sie St. Pauli und De Wallen! An der Kreuzung Kaiser-Friedrich/Bismarck, da ist was los!

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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