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Aufgebrachte Mursi-Anhänger vor dem ägyptischen Verfassungsgericht.

© Reuters

Update

Nach Massendemonstration der Muslimbrüder: Ägyptens Verfassungsrichter treten in Streik

Tagelang trugen die Gegner von Präsident Mursi ihren Protest auf die Straße. Dann demonstrierten die Islamisten in Kairo ihre Macht. Nun beklagen die höchsten Richter des Landes einen moralischen Mordanschlag auf die Justiz und legen ihre Arbeit nieder.

Das haben Ägyptens Oberste Verfassungshüter noch nie erlebt. Eigentlich wollten die 19 Herren in ihren Roben am Sonntag über Verfassungsgebende Versammlung und Oberhaus zu Gericht sitzen und beide Kammern ein für allemal nach Hause schicken. Stattdessen mussten sie selber vorzeitig heimkehren, nachdem ihnen eine aufgepeitschte Menge vor dem Verfassungsgericht den Zugang verwehrt und Prügel androht hatte. Seit Samstagabend belagern mehrere tausend Anhänger von Mohammed Mursi den wuchtigen Bau im ägyptischen Tempelstil, den sie als Nervenzentrum der alten Kräfte des Mubarak-Regimes ansehen. Ägyptens Chefrichter Maher El-Beheiry ließ dann auch wutschnaubend erklären, das Verfassungsgericht trete in einen unbefristeten Streik und sprach von einem „schwarzen Tag für die Justiz“. „Ägypten tanzt auf dem Vulkan“ und „Eine Nation, zwei Völker“ titelten Kairos Zeitungen am Sonntag. Denn weder Islamisten noch Säkulare zeigen irgendwelche Anstalten, in dem brisanten Machtpoker nachzugeben.

Muslimbrüder und Salafisten ließen am Samstag ihre Muskeln spielen und trumpften auf mit ihrer wohl größten Massendemonstration in der Geschichte Ägyptens. Hunderttausende aus dem ganzen Land waren nach Kairo gekommen. In endlosen Schlangen reihten sich die Busse in den Seitenstraßen rund um den Al-Nahda-Platz vor der Kairo Universität. Keine einzige Frau ohne Kopftuch war weit und breit zu sehen, viele Männer trugen Bärte, schwenkten die Fahne Ägyptens, die Banner von Muslimbrüdern und Salafisten, einzelne auch die schwarzen Kampfflaggen der Gotteskrieger. „Das Volk ist für den islamischen Staat, ob die Säkularen wollen oder nicht“, rief die Menge in Sprechchören und „Wir unterstützen die Entscheidungen des Präsidenten“. Nur der Nil lag zwischen den frommen Heerscharen und ihren säkularen Kontrahenten, die seit Tagen auf dem Tahrir-Platz campieren und sich nun für Dienstag zu nächsten Großprotest rüsten.

„Wir sind alle für die Scharia“, hat Ahmed Farouk auf sein Transparent gemalt. Der füllige Salafist mit schwarzer Häkelkappe und orange gefärbten Bart war bereits am frühen Morgen aus Alexandria angereist. „Die ganze Welt soll sehen, die Menschen hier wollen Islam und Scharia“, sagte der 35-Jährige, der in einer Lebensmittelfabrik sein Geld verdient. Es gebe nicht nur die Leute auf dem Tahrir-Platz, wie die Medien weismachen wollten. „Es gibt auch uns und wir sind die Mehrheit“ fügte er hinzu, während vor seinem Schild zwei Männer auf das Pflaster sanken und anfingen zu beten.

Andere trugen verklärende Poster von Mohammed Mursi vor sich her, wie eine heilige Ikone hält der Präsident das Sternenfirmament in seinen Händen. Wenn sie über ihn reden, dann wie von einem Erlöser oder einem Vollkommenen, einen, der nur das Beste will, und jetzt von dunklen Kräften des alten Mubarak-Regimes gestürzt werden soll. „Das Verfassungsgericht sind Mubarak-Leute. Sie haben alles blockiert, so ging es nicht mehr weiter“, rechtfertigte Essam El-Gaweesh, Lehrer aus der Suezkanal-Stadt Ismailia, die umstrittenen Justizdekrete. Fein säuberlich hat er zu Hause alle seine Gedanken und Argumente auf vier Blatt liniertem Papier notiert, die er sorgfältig gefaltet in seinem Proviantbeutel zusammen mit Käse-Sandwichs, gekochten Eiern, Papiertaschentüchern und seiner ausgelesenen Zeitung bei sich trug – seine eigene Methode, in den Wirren Ägyptens nicht den Überblick zu verlieren.

Für die Opposition präzisierte Friedensnobelpreisträger Mohammed el-Baradei noch einmal die Forderungen. Präsident Mursi solle seine Dekrete gegen die Judikative zurücknehmen, verlangte er, einen nationalen Dialog mit der Opposition suchen, die gegenwärtige Verfassungsgebende Versammlung auflösen und ein neues, wirklich repräsentatives Plenum berufen. Doch der Staatschef denkt gar nicht daran. Stattdessen nahm er unbeirrt und feierlich den in 15-stündiger Marathonsitzung durchgepaukten Verfassungsentwurf entgegen und setzte den 15. Dezember als Termin für das Volksreferendum fest.

Der ägyptische Richterverband kündigte einen Boykott des geplanten Referendums über die neue Verfassung an. „Alle Richter Ägyptens und die Richter-Clubs außerhalb der Hauptstadt sind darin übereingekommen, das Referendum über ein Verfassungsprojekt nicht zu beaufsichtigen und es zu boykottieren“, erklärte der Richterclub-Vorsitzende Ahmed al-Sind, am Sonntag laut der amtlichen Nachrichtenagentur Mena.

Wer in den zwei Wochen bis zum Referendum die Oberhand behält, daran hatten die demonstrierenden Islamisten keinen Zweifel. „Der Tahrir, das ist wie ein Tropfen im Ozean”, spottete ein Jurastudent, der mit seinen Freunden gekommen war. „Wir sind die Mehrheit – die anderen dagegen haben alle Wahlen verloren, erst beim Parlament, dann beim Präsidenten“, mischte sich ein anderer ein. Und ein dritter meinte lakonisch. „Wir wollen keine Gewalt, lassen wir doch einfach die Urnen entscheiden.“

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