
Politik und christliches Menschenbild: Damit wir uns nicht verlieren
Was wäre Politik auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes? Arbeit ist Teil der menschlichen Selbstverwirklichung. Der Satz ist eine gesellschaftliche Leitgröße, für christliche wie soziale Politiker über alle Parteigrenzen hinweg. Ein Kommentar.

Wann, wenn nicht jetzt, ist Zeit, darüber nachzudenken, jetzt, zum Dritten Advent. In einer an Ereignissen aufgeladenen Zeit, in der über vieles zu räsonieren ist. Und warum nicht auch einmal über den Wert der Arbeit aus christlicher Sicht? Es ist mit dem Christlichen doch nicht nur immer und immer Verfehlung verbunden, sondern eigentlich auch die Empfehlung für ein besseres Leben. Als Christ, aufgeklärt wie er ist, wie er sein soll, aufgeschlossen, niemanden ausschließend – das ist eine Anforderung, und mag sie in den Ohren mancher wie ein frommer Wunsch klingen. Scheitern an der politischen Wirklichkeit, oder an der eigenen Unzulänglichkeit, ist erlaubt, natürlich, weil dem dann doch ein Versuch vorangegangen ist.
Der Papst sagt es seit alters her, die evangelische Kirche seit ihren Zeiten, und beide werden es in diesen Tagen, die hoffentlich voller Besinnung sind, wiederholen: Denkt sozial. Handelt sozial. Behandelt den Staat als Sozialstaat. Der Mensch, zumal wenn er als Gottes Geschöpf angesehen wird, hat keinen Preis, ist nicht austauschbar. Was über allen Preis erhaben ist, ohne Äquivalent ist, das hat eine Würde, sagt Kant. Und kein wirtschaftlicher Erfolg kann die Menschenwürde kompensieren, nicht wahr?
Arbeitslosigkeit widerspricht dem Teilhabegebot
Die Arbeit – aus christlicher Sicht ist sie ein Auftrag Gottes. Macht euch die Erde untertan, das war, so gesehen, der erste Arbeitsvertrag, einer mit einem Angebot zur Teilhabe. Arbeitslosigkeit widerspricht dann also diesem Teilhabegebot, immerhin einem an der Schöpfung, die zu erhalten uns aufgetragen ist. Über unsere eigene Lebenszeit hinaus für nachfolgende Generationen. Darum darf sie nicht als Schuttabladeplatz hinterlassen werden. Die Welt ist eine Idee vom Fortschritt, aber in umfassender Hinsicht. Und darum auch hatten sich Politiker in diesem Land zum Beispiel ganz konkret vorgenommen, dem Finanzkapitalismus zu begegnen. Weil es so war, so ist: Wenn sich der Börsenwert von Aktien an einem Tag um ein Prozent ändert, wird das Dreifache dessen verschoben, was an diesem einen Tag an Löhnen auf der Welt gezahlt wird. Dass spekulatives Finanzkapital diese Welt ohne Beziehung zur Wertschöpfung umkreist, dass der Gewinn höher wird, wenn mehr Arbeitnehmer entlassen werden – das ist kein Fortschritt. Das ist gegen die Vernunft und gegen das christliche Bild vom Menschen. Für diese Ansicht von Humanität gibt es eine große Koalition. Mehr denn je zeigt sich: Köpfe sind unser Reichweite. Innovation und Qualifikation machen 80 Prozent an der unternehmerischen Wertschöpfung aus.
Arbeit ist Teil der menschlichen Selbstverwirklichung, sagt nicht nur Oswald von Nell-Breuning. Der Satz ist eine gesellschaftliche Leitgröße, für christliche wie soziale Politiker über alle Parteigrenzen hinweg. Und diese Leitgröße kehrt mit der Zeit zurück. Es hat sich gezeigt: Arbeit als Teil der Selbstverwirklichung ist eine andere Art von Reichtum als der an der Börse. Soziale Sicherheit an Arbeit zu koppeln ist realistischer als an Kapital. In Deutschland nehmen Arbeitnehmer durch ihre Arbeitseinkommen an der volkswirtschaftlichen Entwicklung teil. Und die Entwicklung ist gut, nach allem, was wir in diesen Zeiten hören.
Denken wir Politik auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes. Denken wir den Sozialstaat, nach Thomas von Aquin, verbunden mit dem angeborenen Gefühl für Gerechtigkeit. Deswegen auch lohnt es sich, die Warnrufe eines zutiefst christlich-sozialen Politikers wie Norbert Blüm nicht zu überhören, ihn nicht als eindimensionalen Denker zu lesen, der nur die Rente im Kopf habe, wenn er daran erinnert, dass dieser Satz auch in Zukunft unser aller Credo sein soll: Starke Schultern müssen mehr tragen als schwache.
Eigenverantwortung steht nicht gegen Verteilungsgerechtigkeit
Denn die Pflichten des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft und die Pflichten der Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen sind die zwei Dimensionen in einem christlichen Gerechtigkeitsbegriff. Blüm sagt es nur so, dass es ganz einfach klingt, so, wie es Schopenhauer immer gefordert hat: Die einen müssen etwas abgeben, bevor die anderen etwas erhalten können, das ist Verteilungsgerechtigkeit. Und Eigenverantwortung steht nicht gegen Verteilungsgerechtigkeit, Eigenverantwortung ist kein Kontrahent, sondern Teil einer gerechten Gesellschaft. Ein Teil aber weist nicht dem Ganzen den Platz an. Und so wird klar auch, dass das Streben nach Verteilungsgerechtigkeit nicht etwa sozialistisch ist.
Diskussionen über das notwendige Neue sind zeitbedingt. Aber zeitliche Umstände ersetzen das Prinzipielle nicht. Das Soziale ist prinzipiell, und das macht einen Staat wie den unseren aus. Wer als Politiker kategoriale Verwechslungen zulässt, der, ja, verliert sich – wenn er Politik auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes als Auftrag versteht.