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Politik: Das unvollendete Projekt der Demokratie

Studie: Der Wohlstand übertüncht nur, dass die meisten Deutschen noch immer rechtsextreme Ansichten pflegen

Berlin - Der Wohlstand hat’s verdeckt, nun bricht wieder auf, was darunter liegt: Ausländerfeindlichkeit ist in Deutschland eher Regel denn Ausnahme und entsteht aus einem allgemeinen starken Anpassungsdruck in der Gesellschaft. Für Vielfalt ist wenig Raum, die demokratischen Prinzipien sind noch nicht verinnerlicht.

Das ist das Ergebnis einer Studie, die Wissenschaftler von der Universität Leipzig im Auftrag der SPD-nahen Friedrich- Ebert-Stiftung durchführten. 2006 hatten sie mit ihrer Untersuchung „Vom Rand in die Mitte“, in der sie rechtsextreme Einstellungen als gesellschaftliches Allgemeingut entdeckten, Aufsehen erregt. Die Folgestudie mit dem Titel „Ein Blick in die Mitte“ stellten die Sozialwissenschaftler Elmar Brähler und Oliver Decker am Mittwoch in der Berliner Zentrale der Stiftung vor.

Die Forscher hatten an zwölf Orten in Deutschland Gruppendiskussionen mit ausgewählten Teilnehmern der vorherigen Untersuchung geführt. In diesen Runden seien ausländerfeindliche Bemerkungen mit großer Selbstverständlichkeit geäußert worden, sagten die Forscher. Derartige Ressentiments, folgerten sie, seien offenbar sozialer Konsens. Allerdings in anderer Weise als früher: Im Vordergrund stehe nicht mehr die Sorge um weggenommene Arbeitsplätze, sondern Ärger über kulturelle Andersartigkeit. Die Forscher beobachteten bei den Diskussionsteilnehmern großes Bemühen, den gesellschaftlichen Normen zu genügen. Diesen Druck zur Gleichförmigkeit gäben sie an Ausländer weiter. „Die meisten unterscheiden zwischen dem guten und schlechten Ausländer“, lautet das Resümee der Forscher. Der gute passe sich an, der schlechte wahre seine kulturellen Besonderheiten. Die größten Vorbehalte gab es gegenüber Russen und Türken.

Dass die Deutschen sich mit Vielfalt schwer tun, hängt nach Ansicht der Forscher auch damit zusammen, dass sie nicht demokratieerprobt sind. Die meisten setzten Demokratie mit dem Wahlrecht gleich, sähen es sonst als „Sache der da oben“ und hätten keine Kenntnis darüber, wie sie sich selbst einbringen könnten. Glaube an Demokratie sei an die Erwartung von Wohlstand gebunden: „Immer dann, wenn der bröckelt, steigen antidemokratische Traditionen auf.“

Das Erbe des Nationalsozialismus ist nach Ansicht der Wissenschaftler immer noch präsent. Das Wirtschaftswunder in den 50ern, sagte Decker, habe als „narzisstische Plombe“ fungiert, die keinen Raum für Aufarbeitung, Scham und Schuld gelassen habe. Nun gebe es die gefährliche Tendenz, Täter und Opfer umzukehren und vor allem die Vertreibung der Deutschen durch die Russen zu beklagen.

Die Wissenschaftler riefen Schulen und Arbeitsstellen dazu auf, Menschen mehr Möglichkeiten zu bieten, sich einzubringen und damit Auseinandersetzung und Mitbestimmung zu üben. „Demokratie ist kein Sockel, der erreicht wird und als gesichert gelten kann“, sagte Decker. Vielmehr sei Demokratie ein noch lange nicht abgeschlossenes Projekt.

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