Politik: Den eigenen Lügen glauben
BELGRAD .Manchmal überschlägt sich die Stimme der Moderatorin.
BELGRAD .Manchmal überschlägt sich die Stimme der Moderatorin.Und was dann folgt, ist keine nüchtern vorgetragene Nachricht, sondern ein regelrechter Wutausbruch.Die Luftangriffe der Allianz gehen in die dritte Woche, und es kommt immer öfter vor, daß die Moderatorin die Fassung verliert.Einmal ist das Objekt ihres Hasses "verbrecherisch", dann "barbarisch" oder "faschistisch".Die Rede ist von der NATO und ihrer "eiskalten Kriegsmaschinerie".
Die Sprache des Krieges wird um 19 Uhr 30 in den Abendnachrichten des staatlichen Fernsehen Serbiens (RTS) zelebriert und kennt tägliche Steigerungsformen, wenn die neusten Bilder von den zerstörerischen Luftangriffen gezeigt werden.Die NATO und ihre Mitgliedsstaaten sind abwechslungsweise Aggressoren, Mörder und Kriminelle.Ihre Söldner und Piloten sind herzlos, skrupellos und feige.Bevorzugtes Ziel solch harter Worte sind auch US-Präsident Bill Clinton, ein Schlächter, Kriegsverbrecher oder Zuhälter, und seine "blutdürstige" Außenministerin Madeleine Albright.
Das serbische Staatsfernsehen bringt die Welt in die Wohnstube.Für jene 60 Prozent der Bevölkerung, die draußen in der Provinz leben, waren die Programme von RTS schon vor dem "barbarischen" NATO-Überfall praktisch die einzige Informationsquelle.Jeden Tag sehen sie dasselbe Ritual mit dem Charme aus alten Ostblockzeiten.Der jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic empfängt Staatsgäste, prominente und weniger prominente.Diese Woche schafft es selbst der Chef der altkommunistischen Arbeiterpartei aus dem benachbarten Ungarn an die erste Stelle.Serbien hat eben viele Freunde in der Welt, und der Präsident ist ein weiser Landesvater.
Das Staatsfernsehen ist neben der Polizei der wichtigste Pfeiler der Macht von Slobodan Milosevic.In den Städten und vor allem in Belgrad hat das kritischere Publikum gelernt, zwischen den Zeilen beziehungsweise Bildern zu lesen.Eine Minderheit übt Konsumverzicht und verweigert sich dem Schlafmittel mit den Alpträumen als gefährlicher Nebenwirkung.Man hört lieber klassische Musik oder liest ein schönes Buch.Auf diese Weise versucht man, sich der Kriegsatmosphäre zu entziehen.Ohnehin ist oft wichtiger, was nicht gesagt wird oder in welcher Reihenfolge die Statisten rund um den Autokraten auftanzen.Meldet das Staatsfernsehen volle Regale in den Bäckereien, ist möglicherweise das Gegenteil der Fall.Eine Autobahn, die eröffnet wird, erweist sich als potemkinsches Dorf.Jetzt, da Krieg herrscht, ist sowieso alles erlaubt.Ein Nachbar sieht am Fernsehen eine ihm vertraute Fabrik im Vollbrand.Doch am nächsten Tag ist beim Augenschein nichts von der Zerstörung zu sehen.
So ist das Telefon das wichtigste Kommunikationsmittel.Wenn die Sirenen aufheulen und am Horizont Explosionen zu hören sind, hängt man sich an die Strippe, um von Bekannten Näheres zu erfahren.Glücklich sind die wenigen, die eine Satellitenschüssel auf dem Dach haben.Das könnte man zumindest meinen.Doch in einem Land, in dem man zu wissen glaubt, daß alle Journalisten berufsbedingt lügen, traut man auch der ausländischen Konkurrenz nicht.RTS empfange nun mal die Befehle von Slobodan Milosevic und der US-Nachrichtensender CNN von Bill Clinton, so lautet eine verbreitete Überzeugung.Im Zweifelsfall glaubt man dann lieber der eigenen Propaganda.
Die hat bisher über den Exodus der Kosovo-Albaner, offiziell immerhin noch Bürger des Landes, kaum ein Wort verloren.Die Deportation fand offiziell nicht statt.Und sollten doch ein paar Albaner geflüchtet sein, bringen die sich vor den NATO-Bomben in Sicherheit.Der "barbarischen" NATO gehe es ohnehin nicht um die Albaner, sondern nur darum, im Süden des Balkans einen Stützpunkt zu errichten.Kriegsrecht und Zensur haben selbst die letzten unabhängigen Stimmen auf Kurs gebracht.Schon zuvor hatte in dem verarmten Land kaum jemand Geld übrig, um regelmäßig eine Tageszeitung zu erstehen.Jetzt müssen die Chefredakteure aller Blätter ihre Artikel vor der Veröffentlichung der Zensur vorlegen.Deshalb herrscht jetzt überall dieselbe patriotische Sprache.Und weil die Zensoren offenbar mit dem Lesen nicht nachkommen, sind die Nachrichten oft schon alt, wenn sie endlich gedruckt werden können.
Vor zwei Jahren, als die Opposition hundert Tage lang gegen einen Wahlbetrug demonstrierte, bewarfen die Belgrader das RTS-Hauptquartier mit Eiern.Punkt 19 Uhr 30, dem Beginn der Abendnachrichten, erschienen sie in der ganzen Stadt an den Wohnungsfenstern und veranstalteten mit Kochtöpfen ohrenbetäubenden Lärm.Er sollte die Lügen des Propagandasenders übertönen.Heute ist es die "verbrecherische" NATO, die den Sender zum Verstummen bringen will.So zumindest hat man in Belgrad die jüngsten Drohungen aus Brüssel verstanden.NATO-Kommandant David Wilbey hatte den Sender, eine "Lügenfabrik" genannt und als "legitimes Ziel" bezeichnet.
Die Moderatorin der Nachrichten verliest am Abend mit empörter Stimme eine Erklärung in eigener Sache: Die Drohung Wilbeys sei die größte Auszeichnung, die das RTS habe bekommen können."Laßt den Kommandanten eine Rakete abfeuern, unsere Adresse ist Takovska 10." Die Wahrheit, so die Frau vom Staatssender kämpferisch, sei unsterblich.Das könnte sogar stimmen.