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Wenn die Politik den Respekt vor der Justiz verliert, ist der Rechtsstaat akut gefährdet.

© Peter Steffen/dpa

Unselige Diskussion: Der Rechtsstaat - glücklicherweise Segen und Zumutung zugleich

Die Verlässlichkeit des Rechtsstaats gehört zu den Stärken der Bundesrepublik. Doch es drohen Gefahren, wie aktuell der Fall Sami A. zeigt. Ein Kommentar.

Das wird für das Rechtsempfinden vieler Bürger nur schwer erträglich sein, wenn Sami A., ein Getreuer des Terror-Drahtziehers Bin Laden, aus Tunesien zurückgeholt werden muss, weil er zuvor widerrechtlich abgeschoben worden war. Die gute Nachricht dabei ist, dass Gerichte entscheiden, was Recht und Unrecht ist und nicht die Politik. Diese strikte Trennung ist ein Wesensmerkmal jeder freiheitlichen und demokratischen Verfassung. Fest verankert auch im Grundgesetz. Aus den Trümmern des verheerendsten Terror-Regimes auf deutschem Boden ist ein Rechtsstaat erwachsen, auf den sich seine Bürger guten Gewissens stützen, verlassen und auch berufen können. Dieser Rechtsstaat bietet Schutz für jedermann und gebietet allen Kräften Einhalt, die ihre politische Macht dazu missbrauchen könnten, die Errungenschaften der Verfassung einzuengen oder gar abzuschaffen. Die weitsichtigen Väter und Mütter dieses Grundgesetzes haben eine Fülle von Vorkehrungen getroffen, die es schwer bis unmöglich machen, die ehernen Grundsätze von Recht, Gesetz und Gewaltenteilung zu schwächen oder außer Kraft zu setzen. Und deshalb dient der Respekt gegenüber dieser freiheitlichsten Verfassung, die es auf deutschem Boden je gegeben hat, immer auch als Gradmesser für die politische Kultur im Land.

Doch dieses sensible Messinstrument verzeichnet gerade in jüngster Zeit beunruhigend häufig nervöse Ausschläge. Wie im Fall von Sami A. Da glauben Behörden, sich vorsätzlich über Recht und Gesetz hinwegsetzen zu können, nur weil sie ihr Handeln von übergeordneter politischer Seite – oder schlimmer noch – von Volkes Stimme für abgesegnet halten. Und hier lohnt der Blick auf das eigentliche Wesen des Rechtsstaats. Zu seinen Eigenschaften gehört eben die unbedingte Unabhängigkeit. Unabhängig von politischen Tagesgeschäften, Machtverhältnissen und vor allem öffentlichen Meinungs- und Stimmungslagen. Der Rechtsstaat ist souverän und nicht populistischen oder plebiszitären Einflüssen unterworfen.

Wenn der Zweck die Mittel heiligt, ist die Gewaltenteilun in Gefahr

Und deshalb ist der Rechtsstaat glücklicherweise Segen und Zumutung zugleich. Natürlich werden Entscheidungen wie die des nordrhein-westfälischen Oberverwaltungsgerichts im Fall Sami A. Unverständnis oder gar Unmut erzeugen, wenn es einen als Gefährder Eingestuften wieder zurückholen lässt. Bedenklich und gefährlich für einen Rechtsstaat ist aber auch, wenn ein Bundesinnenminister, für den die strikte Einhaltung der verfassungsmäßigen Ordnung zu dessen obersten Amtspflichten gehört, schon mal augenzwinkernd den offenen Rechtsbruch toleriert. Inzwischen häufen sich die Fälle ungerechtfertigter Abschiebung, nur um Hilflosigkeit, Ohnmacht und Überforderung angesichts anschwellender Fallzahlen zu kaschieren. Wenn der vermeintlich gute Zweck die Mittel heiligt, dann gerät der Rechtsstaat in Gefahr. Denn wer definiert die Qualität des Zwecks und wem kommt im Zweifel dieser zweifelhafte Zweck zu Gute? Die jüngsten Entwicklungen in den USA, in Polen, Ungarn, der Türkei und sogar in Österreich zeigen beispielhaft, wohin es führt, wenn es Regierenden freigestellt ist, zu definieren, welche Zwecke welche Mittel heiligen.

Es mag nicht immer bequem sein, sich solchen Anfechtungen zu widersetzen. Doch Zivilisation definiert sich doch gerade durch die Fähigkeit der Selbstdisziplin, durch den Zwang zum Verlassen der eigenen Komfortzone im Sinne eines verträglichen Allgemeinwohls. Kants kategorischer Imperativ, wonach sich das eigene Handeln stets daran messen lassen muss, ob es als Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung tauge, oder Schillers Postulat, wonach die Pflicht zur Neigung werden soll, sind bis heute Grundsätze unserer gesellschaftlichen Kultur, die man auch gerne Leitkultur nennen mag. Auffällig nur, dass gerade diejenigen, die die Leitkultur gerne und oft als Kampfbegriff im Munde führen, genau gegen diesen Geist verstoßen. In Zeiten um sich greifender Selbstoptimierung hat es die Selbstbeschränkung schwer. 

Die Verrohung der Sitten scheint allgegenwärtig, in jeder Warteschlange, im Straßenverkehr, in Wahlkämpfen oder im Geschäftsleben. Weg mit allem, was dem eigenen schnellen Fortkommen im Wege steht. Egoismus als persönliche Charaktereigenschaft, als ökonomische Glaubenslehre oder vermeintliche Staatsräson gelten als einzig zielführend. Dabei zählte es doch einmal als Fortschritt der Menschheit, sich aus brachialer Archaik weiterzuentwickeln zu einem Zusammenleben, das sich selbst Normen auferlegt und sich aus den Früchten von Ethik, Kunst und Kultur speist. Wer den beschleunigten Verfall dieser Werte beobachtet, muss zu dem Schluss kommen, dass der Konsens zur politischen, wie kulturellen Zivilisation im Begriff ist, aufgekündigt zu werden. 

Von manchen gegenwärtigen Wendungen des vermeintlichen Zeitgeists mögen die Väter und Mütter des Grundgesetztes vor 70 Jahren wenig geahnt haben. Aber sie hatten die Entgleisungen der barbarischen Nazi-Herrschaft in frischer Erinnerung und wussten, aus welchen zunächst harmlos erscheinenden Symptomen sich die Katastrophe entwickeln kann. Und sie haben mit der Verfassung und dem aus ihr erwachsenden Rechtsstaat einen Impfschutz entwickelt, der bis heute wirksam ist. Vorausgesetzt, er wird nicht verwässert, schlechtgeredet oder gar aufgehoben.   

Aus dem sogenannten Menschenverstand wird schnell "gesundes Volksempfinden"

Und aus dieser Geringschätzung oder Verächtlichmachung von rechtsstaatlichen Prinzipien speisen sich die Anbiederungsversuche der Populisten beim Wähler. Bemüht wird der sogenannte Menschenverstand, aus dem schnell ein „gesundes Volksempfinden“ werden kann, das sich über alle rechtsstaatlichen Prinzipien hinwegsetzen kann. Der Rechtsstaat weicht der Stimmungsdemokratie. Da wird dann unverhohlen die Freiheit der Presse beschnitten, es werden Rechte von Minderheiten negiert oder der verbriefte Schutz der Privatsphäre preisgegeben. Den Ideengebern des Grundgesetzes war durchaus bewusst, welche Gefahren von zu viel plebiszitären Elementen in einer Verfassung ausgehen können und setzten aus gutem Grund auf die Grundsätze der repräsentativen Demokratie.

Gewiss, von islamistischen Gewalttätern gehen schwerwiegende Gefahren aus für das Land. Blutige Terroranschläge, die Radikalisierung junger Menschen sind einige davon. Aber auch die Aushöhlung des Rechtstaats, die schnelle wohlfeile Preisgabe seiner Prinzipien gehören zu diesen Gefahren. Mit sogar noch schlimmeren Folgen. Denn terroristische Gefährder lassen sich vor Gericht stellen. Den politischen Gefährdern des Rechtsstaats ist dagegen weit schwieriger beizukommen. Zumal deren Taten, die Beschneidung freiheitlicher Grundrechte, kaum rückholbar sind. Schlimm genug, wenn der gegenwärtige Terror Menschenleben zerstört. Er darf aber nicht auch noch die Regeln für ein zivilisatorisches, freiheitliches Zusammenleben der Menschen gefährden.  

Wolfgang Bager

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